„Er ist noch nicht tot. Die Klinge ist in der Nähe des Herzens eingedrungen. Sobald das Messer herausgezogen wird, muß sich ein Blutstrom ergießen, und er stirbt.“ –
Die beiden Mörder waren unangefochten aus dem Hotel entkommen. Sie mußten zu dem Juden, machten aber einen Umweg, um etwaige Nachforschungen irrezuleiten.
Sie begaben sich zunächst nach dem Gouvernementsplatz, dann am Artillerie-Train vorüber nach der Straße, welche sich in der Richtung der Zivil- und Militärintendanz teilt. Sie ließen die erstere zu ihrer Rechten und schritten auf die letztere zu. Dort angekommen, bemerkten sie eine ungewöhnliche Volksmenge, welche laute freudige, ja begeisterte Ausrufe hören ließ.
„Hurra, hurra! Es lebe der Kaiser! Nieder mit Deutschland. Rache für Sadowa! Nieder mit Bismarck.“
Diese Rufe veranlaßten sie, stehenzubleiben.
„Was gibt's? Was ist geschehen?“ fragte der Bajazzo einen der Rufer.
„Das wissen Sie noch nicht?“ antwortete dieser.
„Nein, sonst würde ich nicht fragen.“
„Ah, ja. Die Depesche ist ja erst vor Minuten gekommen. Der Kaiser hat Preußen den Krieg erklärt. Die algerischen Regimenter werden marschieren. Alle, Zuaven und Turkos müssen fort.“
„Ist das wahr?“
„Ja, ja; Sie hören es doch.“
Der Bajazzo wollte noch weiter fragen; aber Vater Main nahm ihn beim Arm und zog ihn fort.
„Dummkopf!“ raunte er ihm zu. „Wir dürfen uns doch nicht sehen lassen.“
Sie gingen weiter, vorsichtig die hellerleuchteten Stellen der Straße vermeidend.
„Krieg, Krieg“, sagte der Bajazzo. „Weißt du, was das bedeutet?“
„Das Preußen fürchterliche Prügel bekommt.“
„Ich meine, was es in Beziehung auf uns bedeutet.“
„Auf uns? Hm! Ja. Man wird aufgeregt sein. Man ist nur mit dem Krieg beschäftigt. Man hat keine Zeit, auf uns zu achten. Ich glaube, wir können es wagen, nach Paris zu gehen.“
„Ja, das meine ich.“
„Ich kann holen, was ich dort versteckt habe. Aber daran können wir ja später denken. Komm nur!“
Sie erreichten glücklich die Wohnung des Juden und wurden von dessen Frau anstandslos eingelassen.
„Nun“, fragte der Alte, „habt Ihr Geld erhalten?“
„Ja“, antwortete Vater Main.
„Genug?“
„Hm, übrig bleibt uns freilich kaum etwas.“
„Ist auch nicht nötig.“
„Wie steht es mit den Legitimationen?“
„Sie sind beschafft. Hier, lest.“
Er gab ihnen einige Dokumente, welche sie sogleich prüften. Dabei befanden sich zwei Pässe, welche ihr ganz genaues Signalement enthielten.
„Sapperment, ist das schnell gegangen“, sagte Vater Main.
„Seid ihr zufrieden?“
„Ja; sie sind vortrefflich.“
„Ich hoffe, daß euer Geld ebensogut ist.“
„Natürlich. An wen haben wir die Überfahrt zu zahlen?“
„An mich.“
Sie handelten sich einige Kleidungstücke ein und bezahlten dann den Juden. Dieser steckte schmunzelnd das Geld in seinen Schrank und sagte:
„Jetzt seht ihr ein, daß ich es gut mit euch gemeint habe. Macht euch nun fertig, die Stadt zu verlassen.“
Es zeigte sich genauso, wie er gesagt hatte. Am Bab el Qued lehnte der Posten am Schildhaus und schien zu schlafen. Sie gelangten unangefochten aus der Stadt.
Als sie dann später die Spitze Pescade erreichten, stieß der Jude einen leisen Pfiff aus. Gleich darauf hörten sie Schritte. Ein Mann tauchte aus dem nächtlichen Dunkel vor ihnen auf.
„Wo ist der Kapitän? fragte der Jude.“
„Dort im Boot.“
„Steht alles gut?“
„Alles. Folgen Sie mir.“
Eine halbe Stunde später kehrte der Jude allein nach der Stadt zurück.
FÜNFTES KAPITEL
Der Krieg bricht aus
Die seit längerer Zeit zwischen Frankreich und Preußen herrschende Spannung hatte sich bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Es war anzunehmen gewesen, daß dies auf künstliche Weise angesammelte Donnerwetter sich mit einem fürchterlichen Schlag entladen werde, und das war nun geschehen.
Napoleon hatte diese Entladung herbeigeführt. Um seinem wankenden Thron einen neuen Halt zu geben, mußte er sein unzufriedenes Volk beschäftigen. Er mußte seinen Flitterthron mit neuer Glorie schmücken, und so zwang er den Krieg herbei. Er wußte sehr genau, daß er va banque spielte; aber er glaubte an sein Glück und unternahm das ungeheure Wagnis.
„Brusquez le Roi!“ hatte er seinem Vertreter Benedetti nach Bad Ems telegraphiert.
Das heißt in gutem Deutsch: „Schnauzen Sie den König an!“ Benedetti gehorchte diesem Befehl, drängte sich auf der Promenade an König Wilhelm und brüskierte ihn. Er erhielt die verdiente Zurückweisung, und die Folge davon war Frankreichs Kriegserklärung.
Nun bemächtigte sich ein wahres Fieber des französischen Volkes, ein Fieber, welches seinen Höhepunkt natürlich in der Hauptstadt, in Paris, erreichte. Diese war ein einziges großes Waffenlager. Wehe dem Deutschen, der sich auf der Straße blicken ließ!
In dem bekannten Haus der Rue Richelieu wurde die Glocke der ersten Etage gezogen. Die Wirtin selbst öffnete.
„Monsieur Belmonte“, sagte sie, erfreut die Hände zusammenschlagend. „Endlich! Treten Sie ein.“
Sie zog ihn in den Vorsaal und dann in das Zimmer und begrüßte ihn in einer Weise, aus welcher er merkte, daß er ihr höchst willkommen sei.
„Also ist Martin, mein Diener, bereits hier gewesen?“ erkundigte er sich.
„Ja, bereits vorgestern. Er meldete mir Ihre Ankunft, und ich freute mich sehr, Sie wieder bei mir zu haben.“
„Lange wird dies freilich nicht währen.“
„Nicht? Wie schade.“
„Daran ist diese Kriegserklärung schuld.“
„Ja, dieser Krieg! Man wird dem König von Preußen zeigen, welche Dummheit er begangen hat.“
„Ja, eine Dummheit ist begangen worden, eine sehr große.“
„Müssen Sie auch mit ins Feld?“
„Freilich.“
„So gebe Gott, daß Sie gesund wiederkommen.“
„Ich danke, Madame! Also ich darf mein früheres Logis für die kurze Zeit, die mir erlaubt ist, wieder beziehen?“
„Natürlich, natürlich!“
„Hat Martin Ihnen gesagt, wo er wohnt?“
„Jawohl! Denken Sie sich, daß er anderwärts logieren wollte. Ich habe das natürlich nicht zugegeben.“
„So wohnt er bei Ihnen?“
„Das versteht sich ja ganz von selbst.“
„Und wo befindet er sich jetzt?“
„Eben in Ihrer Wohnung. Er hat Ihren Koffer mitgebracht und alles ausgepackt. Sie werden das Logis ganz genau so finden, wie Sie es verlassen haben. Kommen Sie.“
Sie führte ihn in die betreffenden Zimmer, wo er von dem braven Martin freudig empfangen wurde. Nachdem sie sich entfernt hatte und Herr und Diener allein waren, sagte der Erstere:
„Nun, hast du Neues?“
„Genug! Eine ganze Menge von Notizen.“
„Ich auch. Meine Ernte ist sehr reichlich.“
„Wie lange bleiben wir hier?“
„Wohl kaum länger als bis morgen. Das Terrain wird zu gefährlich. Wir arbeiten diese Nacht, und dann können wir aufbrechen.“
„Schön. Ich hoffe, daß wir recht bald wiederkommen, und zwar nicht als Weinhändler. Aber, mein sehr vorzüglicher Monsieur Belmonte, wissen Sie, was ich für eine Entdeckung gemacht habe?“
„Nun?“
„Eine höchst, höchst wichtige.“
„So laß hören.“
„Vater Main –“
„Was Teufel! Ist's wahr?“
„Ja.“
„Hast du ihn gesehen?“
„Ich hoffe es.“
„Du hoffst es? Das klingt freilich sehr ungewiß.“