„Hm! Er war sehr gut verkleidet, fast noch besser als ich selbst; aber seine Stimme war es ganz genau.“
„Wann hast du ihn gesehen?“
„Heute früh. Auf dem Versailler Bahnhof. Ich lungerte dort herum, als der Zug anlangte. Unter den aussteigenden Passagieren waren zwei, welche hart an mir vorüberstrichen. Sie sprachen miteinander, und der Kuckuck soll mich reiten, wenn ich den einen nicht an der Stimme erkannte.“
„Eben Vater Main?“
„Ja.“
„Und der andere?“
„Ich weiß nicht, wohin ich ihn tun soll; aber seine Haltung und sein Gang schienen mir bekannt zu sein. Es läßt sich vermuten, daß auch er verkleidet war.“
„Wohin gingen sie?“
„Sie schlugen die für uns glücklichste Richtung ein, welche es nur geben kann, nämlich nach dieser Straße.“
„Ah! Bist du ihnen gefolgt?“
„Natürlich. Sie gingen, denken Sie sich den Zufall, in das uns gegenüberliegende Haus.“
„Und du ihnen nach?“
„Ja, freilich nur bis in den Hof, um zu sehen, wo sie verschwinden würden.“
„Nun?“
„Da drüben im Hinterhaus, parterre, gibt es eine sogenannte Destillation. Man destilliert aber nicht, sondern man schenkt nur aus – Schnaps natürlich. Da hinein gingen sie. Ich habe mich dann hier an das Fenster gestellt und aufgepaßt. Sie sind noch nicht wieder heraus.“
„Sapperment! Warum bist du nicht auch hinein?“
„Konnte ich? Man müßte sich verkleiden.“
„Nun, so sehe ich mich genötigt, das Versäumte nachzuholen. Ich muß wissen, wer der andere ist.“
„Hm! Eine Ahnung habe ich freilich.“
„Welche?“
„Der Gang war ganz derjenige, den ich an jenem Harlekin beobachtet habe, der bei Vater Main verkehrte.“
„Alle Teufel! Meinst du den Bajazzo Lermille?“
„Ganz genau!“
„Wenn du dich nicht irrtest. Das wäre ein Fang.“
„Vater Main ein noch viel größerer. Er war es ja, der Fräulein von Latreau einsperrte. Der Bajazzo war da wohl nicht dabei.“
„Aber er ist mir in anderer Beziehung wichtig. Hast du die Schminke und alles andere da?“
„Alles.“
„So will ich mir sofort ein anderes Gesicht machen. Ich muß hinüber; ich muß wissen, woran ich bin.“
Martin öffnete einen Doppelboden des Koffers, unter welchem sich allerlei Heimlichkeiten befanden, von denen er das Nötige auszuwählen begann. Plötzlich hielt er in dieser Beschäftigung inne, schnipste mit dem Finger und sagte:
„Sapperlot, kommt mir da ein Gedanke.“
„Ein guter?“
„Ich hoffe es.“
„Laß hören!“
„Wollen Sie Vater Main arretieren lassen?“
„Natürlich.“
„Dann kommen Sie mit der Polizei in Berührung, und das müssen wir jetzt vermeiden.“
„Meine Papiere sind ausgezeichnet.“
„Ja, aber besser ist besser. Wissen Sie, wer am meisten darauf brennt, ihn zu fangen?“
„Nun?“
„Der General von Latreau.“
„Natürlich. Wie aber kommst du auf diesen? Steht seine Person mit deinem plötzlichen Einfall in Beziehung?“
„Ja. Wie wäre es, wenn wir diesen braven Vater Main dem General nach Schloß Malineau schickten?“
„Pah! Er würde sich hüten, hinzugehen.“
„Oder wir selbst bringen ihn hin.“
„Wie wollen wir das anfangen?“
„Oh, es ist nicht sehr schwer. Ich denke mir, daß Vater Main nur für kurze Zeit hier sein wird. Vielleicht hat er eine Kleinigkeit zu tun. Jedenfalls aber darf er sich nicht sehen lassen. Ihm ist ein Asyl notwendig, wo man ihn nicht kennt. Wie nun, wenn ihm dies in Malineau scheinbar geboten würde?“
„Hm! Dieser Gedanke hat allerdings etwas für sich. Wollen sehen. Ich muß erst rekognoszieren, ehe ich einen Entschluß fassen kann. Freilich, wenn der andere wirklich der Bajazzo wäre, so könnte man den beiden gar keine bessere Falle stellen, als die ist, die du meinst. Vor allen Dingen will ich Toilette machen.“
Mit Hilfe Martins war er in kurzer Zeit so verwandelt, daß ihn kein Mensch erkennen konnte. Der Diener mußte dafür sorgen, daß er während des Fortgehens nicht von der Wirtin bemerkt wurde; dann verließ er das Logis.
Er schritt über die Straße, trat in das gegenüberliegende Haus und ging in den Hof desselben. Er bemerkte, daß die angegebene Destillation eine ganz gewöhnliche Spelunke sei, ein Umstand, mit welchem er sehr zufrieden war. Er trat ein und befand sich in einem nicht sehr großen, aber desto niedrigeren Raum, in welchem es fast unausstehlich nach Schnaps und schlechtem Tabak roch.
An einem schmutzigen Tisch saßen zwei Männer, in denen er die Betreffenden vermutete. Sie hatten eine Flasche Branntwein und zwei Gläser vor sich stehen; sonst befand sich niemand da.
Er grüßte und setzte sich an den Nebentisch; sie dankten mürrisch und schienen sich nicht weiter um ihn bekümmern zu wollen. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, fragte er:
„Messieurs, ist vielleicht einer von Ihnen der Wirt?“
„Nein“, antwortete Vater Main.
„Wo ist er denn?“
„Da draußen.“
Er deutete nach einer dem Ausgang entgegengesetzten Tür. Belmonte klopfte an dieselbe, und nun trat der Wirt ein, von welchem er einen Schnaps verlangte. Er erhielt denselben, und dabei fragte der Wirt:
„Sie sind fremd in dieser Straße?“
„Ja.“
„Dachte es. Wenigstens waren Sie noch nicht bei mir.“
„Ich bin überhaupt fremd in der Residenz. Ich war noch nie in Paris.“
„Und kommen gerade jetzt her! Das ist befremdlich.“
„Wieso?“
„Nun, Sie sind doch wohl noch nicht über das Militärdienstalter hinaus, und jetzt hat jeder Kriegspflichtige an seinem Ort einzutreffen.“
„Das ist sehr richtig. Aber gerade deshalb komme ich nach Paris. Ich muß mit ins Feld, und daheim mangelt es an Ersatz. Den will ich hier suchen.“
„Ah so! Na, da suchen Sie.“
Er entfernte sich wieder, und Belmonte gab sich Mühe, einen Schluck des miserablen Getränks hinunterzuwürgen.
Die beiden anderen musterten ihn mit prüfendem Blick, dann fragte Vater Main:
„Darf man wissen, woher Sie sind?“
„Seitwärts von Metz. Es ist das eine verdammte Geschichte.“
„Was?“
„Mein Vater ist nämlich Schloßkastellan und zugleich Ökonomieverwalter. Infolge des Krieges werden fast alle unsere Leute eingezogen, und sie fehlen daheim. In der Gegend gibt es keinen Ersatz, und so schickte mich der Vater nach Paris. Ich habe nur einen einzigen Menschen gefunden, der sich engagieren ließ, nun aber brauche ich drei. Kein Mensch will mit, obgleich die Stellen sehr gute sind.“
„Was sind es für welche?“
„Die Stelle eines Forstwartes und seines Gehilfen.“
„Da sind doch wohl Forstkenntnisse erforderlich?“
„O nein. Die beiden haben nur darauf zu sehen, daß nichts gestohlen wird.“
„Hm! Wann sind diese Stellen zu besetzen?“
„Sofort.“
„Welche Empfehlungen werden verlangt?“
„Empfehlungen? Mein Gott, wozu Empfehlungen?“
„Aber Sie können doch nicht den ersten besten engagieren!“
„Man muß dies leider. Es ist niemand zu bekommen.“
Es entstand eine Pause. Belmonte griff nach einem Zeitungsblatt und las. Die beiden anderen sprachen leise miteinander. Vater Main flüsterte leise:
„Du, Bajazzo, was sagst du dazu?“
„Hm! Nicht übel!“
„Forstwart, man steckt im Wald; kein Mensch hat sich um einen zu bekümmern. Man könnte da Gras über die Geschichte wachsen lassen. Nicht?“
„Freilich!“
„Zudem sieht dieser Kerl sehr dumm aus. Wenn sein Vater nicht gescheiter ist, so sind wir geborgen. Soll ich mit ihm reden?“
„Meinetwegen. Aber wir müssen doch vorher erst unseren Plan zur Ausführung bringen.“