„Sie sind es! Warum befreien Sie mich?“
„Ich belauschte Ihre Begleiter und hörte, daß man Sie betrog. Ich hörte Sie sprechen. Ihre Aussprache ist eine deutsche. Sie sind ein Deutscher?“
„Ja, eigentlich.“
„Ich bin auch von drüben her. Darum beschloß ich, Sie zu befreien. Das war ganz leicht, da ich im Schloß zu tun hatte. Ich blieb nur scheinbar in Etain zurück.“
„Sie haben ja diesen Wagen.“
„Ja, den habe ich annektiert. Konnten wir zu zweien auf meinem Pferd reiten? Den Kerls, die es so schlimm mit Ihnen meinten, ist's ganz recht, daß sie den Wagen verlieren.“
„Wohin bringen Sie mich?“
„Nach Thionville.“
„O weh!“ entfuhr es ihm.
„Haben Sie keine Sorge! Ich gehe da zunächst zu einem Freund, bei dem Sie vollständig sicher sind. Bei der ersten Gelegenheit gehen wir dann über die Grenze. Oder bleiben Sie lieber hier?“
„Nein, nein! Ich will hinüber.“
„Schön! Nun haben Sie die Wahl, ob wir beisammen bleiben wollen oder nicht.“
„Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir beisammen.“
„Schön. Ich will jetzt nicht fragen, wer und was Sie sind. Landsleute müssen sich in solchen Zeiten unterstützen. Sie werden schon auch noch erfahren, wer ich bin!“
Bei Doktor Bertrand wurde dem Bajazzo eine Stube angewiesen, aus welcher er nicht entkommen konnte. Er glaubte, daß man diese Maßregel zu seinem eigenen Vorteil treffe. Nach einigen Tagen reisten sie zu Fuß nach der Grenze, und erst drüben benutzten sie die Bahn. So ging es bis Köln. Dort aber wurde der Bajazzo plötzlich, ohne daß er wußte weshalb, im Gasthof arretiert. Beim Legitimationsverhör fragte er danach und erhielt zur Antwort, daß man ihn nach Berlin bringen werde, wo er sicher Auskunft über die Ursache seiner Arretur erhalten werde. Er ahnte noch immer nicht, daß er die letztere seinem Reisebegleiter zu verdanken habe.
Am neunzehnten Juli war die französische Kriegserklärung in Berlin überreicht worden, und am achtundzwanzigsten desselben Monats hatte Napoleon III. in Metz das Oberkommando über die französische Rheinarmee übernommen, nachdem er der Kaiserin Eugénie die Regentschaft übertragen hatte.
Der nun ausbrechende Krieg enthüllte außerordentlich schnell die äußere und innere Schwäche des zweiten Kaiserreichs.
Das französische Heer hatte, einer stehenden Redensart zufolge, einen Spaziergang nach Berlin machen wollen; aber die Wacht am Rhein war auf ihrer Hut gewesen. Die deutschen Heereskörper rückten über die feindliche Grenze, ehe die Franzosen ihre Armeekorps noch komplettiert hatten.
Am vierten August stürmten die Kronprinzliche Armee Weißenburg und den Geisberg. Zwei Tage später war die siegreiche Schlacht bei Wörth, in welcher das Heer Mac Mahons vollständig geschlagen wurde, und nun folgte Schlag auf Schlag. Die französischen Streitkräfte wurden an allen Punkten zurückgeworfen. Sie wurden gezwungen, sich immer und immer wieder rückwärts zu konzentrieren. Sie fanden keine Zeit, sich zu sammeln und festzusetzen. Paris wurde in Belagerungszustand erklärt, und die Deutschen waren an allen Orten Herren und Meister.
Niemand wurde durch dieses rapide Vordringen der Deutschen mehr in Grimm versetzt, als der alte Kapitän Richemonte. Zuerst hatte er Befehl erhalten, die letzten Schritte zur Organisation seiner Franctireurbande erst dann zu tun, wenn man die deutsche Grenze überschritten habe und er sich also im Rücken des eigentlichen Heeres befinde. Zu einem Überschreiten der Grenze war es aber nicht gekommen, und da die französischen Heeresleiter schon für sich so viel zu tun hatten, daß sie die Köpfe verloren, so hatte man nicht Zeit gefunden, an ihn zu denken, und er war ohne alle Nachricht und Instruktion geblieben.
Nun hauste er auf Ortry und wußte vor Ärger nicht, wo aus noch ein. Er hielt sich bereit, loszubrechen, sobald er den Befehl erhalten würde.
Diese Erbitterung gegen die Deutschen herrschte natürlich auch in der Umgegend. Handel und Wandel stockten. Kein Arbeiter erhielt Beschäftigung. Man hatte Zeit genug, sich mit den Neuigkeiten zu befassen, und da diese für die Deutschen stets günstig lauteten, so wuchs der Grimm von Stunde zu Stunde. –
Es war gegen das Morgengrauen, als mehrere Reiter durch einen Wald ritten, welcher in einer ungefähren Entfernung von zwei Stunden östlich von Ortry liegt. Sie waren von der Straße, welche von Merzig aus in westlicher Richtung nach Sierk führt, nach Süden abgewichen, um unbemerkt die Gegend von Thionville zu erreichen.
Sie zählten nur ihrer zwölf und waren in Zivil. Von Zeit zu Zeit blieb einer von ihnen halten und riß mit dem Messer ein Rindenstück von einem der an dem schmalen Fahrweg stehenden Bäume. Dies war ein Zeichen für diejenigen, welche nachkommen sollten.
Voran ritt eine hoch und stark gebaute Gestalt mit männlich ernstem, dunklem Gesicht, welches von einem Vollbart umrahmt wurde, der jedenfalls nur ein Alter von einigen Wochen hatte. Dieser Reiter war – buckelig.
Der Morgen wurde heller und heller. Man konnte bereits in weite Entfernung sehen. Da sagte einer der jüngeren Herren zu dem beschriebenen Reiter:
„Wie steht es, Herr Major? Sind wir bald an Ort und Stelle? Zwölf Stunden im Sattel!“
„Ist das zu viel von Ihnen verlangt, Lieutenant?“
„Nein; das wissen Sie ja. Aber weil dieser Ritt zu gefährlich war, wollte ich meinen Fuchs nicht auf das Spiel setzen und nahm hier diesen Gaul. Er kann kaum weiter.“
Da wandte sich einer der anderen zu dem Sprecher und rezitierte aus einem bekannten Uhlandschen Gedicht die Strophen:
„Dem Pferde war's so schwach im Magen;
Fast mußte der Reiter die Mähre tragen.“
Ein halblautes Lachen erscholl. Da wendete sich derjenige, welcher Major genannt worden war, um und warnte:
„Pst! Nicht so laut, meine Herren! Wir befinden uns in Feindesland. Und da – ah, dort steht die Eiche. Warten Sie!“
Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte fort. Von seitwärts her winkte die dichte Krone einer Eiche von der bewaldeten Höhe. Der Major jagte am Weg hin und bog sodann zwischen die lichtstehenden Bäume ein. Dort, am Stamm der Eiche, stand ein junger Mann, auch in Zivil.
„Grüß Gott!“ sagte der Major. „Sie sind da; also hat es geklappt?“
„Alles in Ordnung, Herr Rittmeister!“
„Oho! Keinen Fehler, mein Bester! Man hat mich zum Stabsoffizier gemacht.“
„Aha, gratuliere, Herr Major! Ist jedenfalls wohl verdient.“
„Haben Sie einen Platz?“
„Prächtig.“
„Weit von hier?“
„Gar nicht weit. Eine tiefe Schlucht, mitten im Wald. Sie führt nach einem Talkessel, in welchem unter Umständen zehn Schwadronen Platz finden.“
„Habe nur zwei und eine Kompanie Jäger. Wann erhielten Sie meine Order?“
„Vorgestern abend. Aber, Herr Major, wie können Sie es wagen, mit diesen Leuten durch feindliches Gebiet zu marschieren, um ein Schloß zu besetzen, welches eben auch mitten im Land des Feindes liegt?“
„Das ist nicht so schwer, wie Sie denken. Erstens sind wir nur in der Nacht geritten und haben jeden bewohnten Ort vermieden, und zweitens bin ich überzeugt, daß ich in Ortry nicht lange isoliert sein werde.“
„Aber man könnte Sie dennoch bemerken. Man könnte Ihnen begegnen!“
„Das ist auch geschehen.“
„So ist Ihr Ritt verraten!“
„Nein. Zwölf Mann in Zivil sind wir an der Spitze. Wer uns begegnete, wurde festgenommen und den Nachfolgenden übergeben. Auf diese Weise haben wir mehrere Gefangene gemacht, welche wir erst morgen wieder entlassen werden. Thionville ist natürlich von den Franzmännern besetzt?“
„Allerdings.“
„So war es Ihnen unmöglich, bei Doktor Bertrand zu bleiben?“
„Ja, ich mußte fort. Aber ich habe einen wunderbar schönen Platz gefunden.“