Dann trat er an den Kamin.
„Hat man hier untersucht?“ fragte er den Sergeanten.
„Ja, Herr Major. Aber der Herr Rittmeister hat nicht entdecken können, wie man da öffnen kann.“
„Wo ist er jetzt?“
„Er ging selbst, um den Kordon fester schließen zu lassen.“
„Bewachen Sie die übrigen gut, ich kehre bald wieder.“
Er fand ganz die Vorrichtung wie bei den anderen geheimen Türen, ergriff ein Licht, winkte Fritz und öffnete. Sie traten durch die Öffnung und verschlossen sie hinter sich wieder.
„Ah, auch eine Treppe!“ meinte Fritz.
„Sie kann aber nicht nach dem Gang führen, der mit bekannt ist. Ich müßte sie sonst entdeckt haben.“
Sie stiegen hinab und gelangten allerdings in einen schmalen Gang, aber dieser führte zu einer niedrigen, eisernen Tür, welche nur angelehnt war. Als sie hinaustraten, befanden sie sich im Hof des Schlosses.
„Wie dumm, wie dumm!“ meinte Königsau. „Wer aber konnte ahnen, daß hier so eine Ausfallpforte sei. Ich habe sie wohl bemerkt, ihr aber keine Beachtung geschenkt.“
In diesem Augenblick kam der Rittmeister zum Tor herein. Er erblickte beim Schein der brennenden Hoflaternen den Major, kam auf ihn zu, salutierte und meldete:
„Herr Oberstwachtmeister, der Kapitän ist entkommen, doch ohne meine Schuld, wie ich bemerken möchte.“
„Ich weiß es. Ich hätte den Saal untersuchen sollen. Hier durch dieses Pförtchen ist er ins Freie gelangt. Warum hat man geschossen?“
„Er hat sich durchgeschlichen. Die beiden Ulanen, zwischen denen er hindurchschlüpfen wollte, haben Feuer gegeben.“
„Wurde er getroffen?“
„Ich weiß es nicht. Er scheint entkommen zu sein. Beim Aufblitzen der Schüsse haben beide seinen grauen Bart und sein weißes Haar erkannt. Er ist es gewesen.“
„Lassen Sie mit Laternen nach Blut suchen.“
„Dürfen wir es wagen, Laternen sehen zu lassen?“
„Ja. Ich hoffe, nach ein Uhr Nachricht zu bekommen, daß Oberst von der Heidten uns von Thionville aus die Hand reicht. Er hat Befehl erhalten, im Geschwindmarsch heranzurücken. Ich kehre in den Saal zurück.“
Der Rittmeister ging.
„Eine verteufelte Geschichte!“ brummte Fritz.
„Allerdings. Aber unsere Aufgabe, die hiesigen Vorräte zu fassen, ist glanzvoll gelöst. Dem Oberstkommandierenden kann es sehr gleichgültig sein, daß der Alte entkommen ist. Aber in unsere Privatangelegenheit macht es uns einen Strich durch die so wohl angelegte Rechnung.“
„Ich denke, er wird nach Malineau gehen.“
„Ganz gewiß. Aber, wenn es mir möglich ist, soll ihm das nicht gelingen. Wir reiten nachher fort.“
„Was geschieht mit der Baronin und ihrem Mann?“
„Sie bleiben hier gefangen. Ich werde die nötigen Instruktionen hinterlassen.“
Kurz vor zwei Uhr kam eine Ordonnanz angeritten, welche nach dem Oberstwachtmeister von Königsau fragte und diesem meldete, daß der Oberst von der Heidten Thionville gegenüber am diesseitigen Ufer der Mosel angekommen sei. Der Besitz von Ortry war gesichert.
Eine Stunde später verließen Königsau und Fritz von Goldberg das Schloß. Sie hatten einen weiten Ritt vor sich. – – –
SECHSTES KAPITEL
Handstreich der Husaren
Am nächsten Tag hielt eine Equipage vor dem Tor des Schlosses Malineau. Der Graf von Latreau stieg aus und wurde von seiner Tochter auf das herzlichste bewillkommnet. Er hatte Vater Main, seinen Gefangenen, nach Metz geschafft, um ihn der dortigen Behörde zu übergeben. Sein Abschied war für längere Zeit berechnet gewesen; darum hatte Ella ihn noch nicht zurückerwartet. Als sie ihm, auf seinem Zimmer angekommen, dies sagte, schüttelte er traurig den Kopf.
„Mein Kind, ich konnte nicht länger dort verweilen“, erklärte er. „Es wäre mir sonst vielleicht unmöglich gewesen, vor Monaten zu dir zurückzukehren.“
„Warum?“ fragte sie erstaunt.
„Ich bin zu alt, um persönlich in den Gang der Ereignisse einzugreifen. Ich konnte nur Rat geben! Man hat meine Ansichten berücksichtigt, soweit es möglich war; aber daß alle, alle, alle Schlachten und Gefechte für uns verloren gingen, das konnte man nicht wissen. Metz sieht einer schweren, langwierigen Belagerung entgegen. Ich habe es verlassen, um bei dir zu sein. Bereits morgen vielleicht hätte ich nicht mehr zu dir gelangen können.“
„Mein Gott! So sind die Deutschen so nahe?“
„Ich befürchte, daß wir sie auch hier in Malineau sehen werden.“
„Wie du mich erschreckst!“
„Fürchte dich nicht. Es sind keine Barbaren. Nur kenntnislose Leute können von ihnen als von halbwilden Leuten sprechen. Ich möchte mich fast schämen, wenn ich sage, daß wir sehr, sehr viel von ihnen lernen können. Gerade jetzt geben sie uns eine Lehre nach der anderen. Leider ist das Honorar, welches wir dafür zahlen müssen, so ein hohes, daß man weinen möchte – Menschenblut!“
Die Nachricht, welche er mitgebracht hatte, verbreitete sich schnell unter den übrigen Bewohnern des Schlosses. Sie war aufregend genug, und doch gab es drei Personen, welchen es nicht einfiel, ein Jammergeschrei anzustimmen, nämlich der Beschließer Melac mit Frau und Enkelin.
Diese drei saßen noch spät am Abend beisammen. Alice befand sich bei ihnen. Sie sprachen natürlich über die Ereignisse der Gegenwart und tauschten ihre Meinungen darüber aus. Da klopfte es leise an den Laden.
Sie glaubten sich getäuscht zu haben, aber das Klopfen wiederholte sich. Melac öffnete daher das Fenster.
„Wer klopft da?“ fragte er.
„Bitte, öffnen Sie mir den Eingang, Monsieur Melac. Ich bin es. Martin, der Weinhändler.“
„Ah, Martin!“ rief Alice. „Geschwind, Monsieur, öffnen Sie; schnell, schnell!“
Der Alte schloß das Fenster, nickte ihr freundlich zu und sagte:
„Meine Beine sind alt und müde. Hier ist der Schlüssel, öffnen Sie, Mademoiselle!“
Sie errötete, ließ es sich aber nicht zweimal sagen. Draußen im Flur brannte kein Licht mehr, denn die Herrschaften hatten sich bereits zur Ruhe begeben.
„Martin, wirklich?“ fragte sie, indem sie öffnete.
„Ja. Ah, du, mein Schwälbchen. Wart, her mit dem Schnäbelchen! So! Das war herzhaft! Noch einmal!“
„Nein, nein! Sie merken es sonst drin.“
„Ist jemand Fremder bei ihnen?“
„Nein.“
„Das ist gut. Komm!“
Er trat mit ihr, nachdem das Tor verschlossen war, in die Stube. Erst jetzt bemerkte Alice, daß er den rechten Arm in einer Binde trug.
„Herr, mein Gott!“ schrie sie auf. „Was ist mit dir? Was hast du gemacht?“
„Verwundet bin ich, mein Kind.“
„Verwundet? Mein Heiland! Wann ist denn das geschehen und wo? Ist's gefährlich?“
„Nein; an das Leben geht es nicht. Es ist weiter nichts, als ein tüchtiger Säbelhieb.“
„Von wem denn?“
„Von einem preußischen Husaren.“
„Der Unmensch, der! Oh, diese Preußen! Diese Husaren! Und die Ulanen sollen noch schlimmer sein.“
„Ja, Kind, das sagt man.“
„Bist du denn gut verbunden? Wird es wieder ganz, ganz heil werden?“
„Ja. Das Wundfieber ist vorüber. Ich lag im Lazarett. Da dachte ich an dich und an den guten Papa Melac. Ich habe keinen Menschen, an den ich mich wenden kann, und da dachte ich, du gehst nach Malineau. Vielleicht erlaubt man dir, dort zu bleiben, bis du wieder eintreten kannst.“
„Natürlich, natürlich, mein bester Monsieur Martin!“ sagte Melac eifrig. „Der gnädige Herr wird sich freuen und die gnädige Demoiselle auch. Sie spricht so gern von Ihnen und Monsieur Belmonte. Wie geht es ihm?“
„Dank, gut! Er steht bei meiner Schwadron.“
„Er ist doch nicht etwa auch verwundet?“
„Nein, er läßt herzlichst grüßen. Eigentlich hat er mich auf den Gedanken gebracht, nach Malineau zu gehen. Er sagte scherzend, daß er nachkommen werde, wenn er auch so eine Schramme bekäme wie ich.“