Der Befehl war in einer Minute vollzogen.
„Herr Major, ich mache Sie verantwortlich“, knirschte der Oberst. „Ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen. Ich bin keineswegs der Mann, den man ungefragt wie einen Dieb behandeln und aussuchen kann.“
„Haben Sie keine Sorge um mich“, lächelte Königsau. „Ich kenne meine Pflicht und weiß sie zu erfüllen. Also, vorwärts!“
Dieser letzte Befehl galt den Soldaten. Sie traten zu dem Franzosen. Der eine setzte ihm den Stiefelknecht hin und sagte:
„Allons Monsieur, Travaillez!“
Die deutschen Offiziere mußten sich Mühe geben, bei diesem komischen Befehl ein Lachen zu unterdrücken.
„Also wirklich“, stieß der Oberst hervor.
„Oui, oui!“ antwortete der Mann.
Zugleich faßte er ihn beim Arm.
„Fort, Mensch!“ schrie der Franzose. „Wenn es denn einmal sein muß, so tue ich es selbst.“
Er zog die Stiefel aus und setzte sich dann auf einen Stuhl, das Gesicht so abwendend, daß er die Deutschen gar nicht sah.
„Hier, Herr Major.“
Bei diesen Worten hielt die Ordonnanz Königsau die Stiefel hin. Dieser sagte aber:
„In diesen Stiefeln befindet sich ein Brief versteckt, jedenfalls hinter dem Futter. Sehen Sie nach.“
„Hm, gefüttert sind sie allerdings. Wollen sehen.“
Er zog ein Taschenmesser und begann damit das Futter loszutrennen. Der erste Stiefel enthielt nichts; im zweiten aber befand sich ein kleines Kuvert, welches Königsau sofort öffnete. Es enthielt einen mehrfach zusammengefalteten Brief auf sehr dünnem Papier, unterschrieben und unterstempelt von dem Marschall Mac Mahon. Der Inhalt lautete, ins Deutsche übersetzt:
„Herr Kamerad!
Soeben geht mir der Kriegsplan des Marschalls Palikao zu. Sein Befehl an mich lautet, mittels eines Flankenmarschs über Sedan und Thionville Ihnen die Hand zu reichen. Ich breche infolgedessen von Chalons auf, hoffe, Sie in guter Stellung in und bei Metz zu finden, und überlasse es Ihrer Einsicht und der Lage der Sache, ob Sie durch irgendwelche Vorstöße mir erleichtern wollen, Sie zu finden. Zur Sicherheit fertige ich ein Duplikat dieses Briefes.
Ihr ergebener Mac Mahon.“
Königsau faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in das Kuvert.
„Nun, Herr Oberst“, sagte er, „sehen Sie ein, daß ich sehr gut unterrichtet war?“
„Zum Teufel, Monsieur, mir bleibt nichts übrig, als mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen.“
Der Ulanenmajor winkte den Soldaten, sich zu entfernen und antwortete dann:
„Schonen Sie sich! Ihr Leben wird wahrscheinlich für Ihren Kaiser nicht ganz wertlos sein, obgleich es eigentlich uns verfallen ist.“
„Wie? Verfallen?“
„Gewiß!“
„Wieso?“
„Sie kennen die Kriegsgesetze?“
„Natürlich!“
„Spione hängt man auf.“
„Herr!“
„Natürlich. Habe ich recht oder unrecht?“
„Aber einen Obersten hängt man nicht auf.“
„Pah! Wenn er ein Spion ist, doch!“
„Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich einer bin?“
„Was sonst?“
„Monsieur, das verbitte ich mir.“
„Pah! Sie sind mit einem Brief an den feindlichen Oberbefehlshaber getroffen worden. Daß dies ein Verbrechen, natürlich in unseren Augen, sein muß, geben Sie doch zu?“
„Auf keinen Fall!“
„Warum verstecken Sie den Brief, wenn es kein Verbrechen ist?“
„Das ist eine Spitzfindigkeit, auf welche ich mich gar nicht weiter einlassen kann.“
„Nun, so muß eben ich mich damit befassen. Bitte, ziehen Sie Ihre Stiefel wieder an.“
„Danke. Sehr freundlich“, antwortete der Franzose. „Soll ich etwa noch etwas ausziehen? Vielleicht das Hemd?“
Er hatte dies in so höhnischen Ton gesprochen, daß Königsau zornig auf ihn zutrat, um zu antworten:
„Monsieur, verkennen Sie Ihre Lage nicht. Nicht Sie sind hier Herr und Meister. Wir verlangen diejenige Achtung, welche Sie uns schuldig sind. Sie sind unser Gefangener. Haben Sie vielleicht noch etwas bei sich, was Sie uns eigentlich abzuliefern hätten?“
„Darauf antworte ich nicht.“
„Gut! Ich werde Sie also aussuchen lassen.“
„Oho!“
„Jawohl! Aussuchen bis auf das Hemd, welches zu erwähnen Sie ja doch die Güte hatten.“
„Nun wohl, ich habe nichts bei mir.“
„Geben Sie Ihr Ehrenwort darauf?“
„Ja.“
„Dann ist es gut. Ich denke, daß Sie Offizier und Kavalier sind und also die Wahrheit sagen werden. Sie werden natürlich hier bei uns bleiben, bis ich weitere Bestimmungen über Sie erhalten habe. Ich weise Ihnen ein Zimmer an und fordere von Ihnen das Versprechen, dasselbe nicht ohne die Erlaubnis des Kommandanten dieses Schlosses zu verlassen.“
„Wer ist das?“
„Jetzt bin ich es. In einigen Sekunden aber wird es hier dieser Herr, Rittmeister Graf von Hohenthal sein.“
„Ich?“ fragte Hohenthal rasch.
„Ja. Wir sprechen dann darüber. Jetzt, Herr Oberst, ersuche ich Sie, mir zu folgen.“
Er wies ihm ein Zimmer an und gab ihm einen Husaren zur Bedienung und natürlich auch zur Bewachung. Dann kehrte er zu den Kameraden zurück.
„War's ein guter Fang?“ fragte Hohenthal.
„Ein sehr guter.“
„Also der Brief ist wichtig?“
„Sogar von außerordentlicher Wichtigkeit. Hier, lies!“
Hohenthal las und meinte:
„Donnerwetter, das ist allerdings höchst wichtig! Der Brief muß sofort zum König, zu Moltke.“
„Das denke ich auch.“
„Wer schafft ihn fort?“
„Ich selbst. Ich kann ihn natürlich keinem anderen anvertrauen.“
„Ganz richtig. Also darum werde ich Kommandant. Aber, Freundchen, wie willst du hinauskommen?“
„Zu Pferd natürlich!“ lächelte Königsau.
„Wir sind eingeschlossen.“
„Pah. Ich werde mich sehr leicht durchhauen. Wir unternehmen einen kräftigen Vorstoß, gerade auf die Straße hin. Da müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn es mir nicht gelingen sollte, durchzukommen.“
„Das denke ich freilich auch. Diese Herren Spahis werden keine Unterbrechung ihrer nächtlichen Ruhe erwarten.“
„Übrigens steht ja Major Posicki in Etain. Bin ich bis dahin, so bin ich sicher.“
„Aber allein reitest du nicht?“
„Nein. Lieutenant von Goldberg begleitet mich.“
„Das versteht sich ganz von selbst!“ meinte Fritz, der mit dieser Bestimmung sehr einverstanden war.
„Was aber tun wir mit den beiden Überläufern?“ erkundigte sich der Rittmeister von Hohenthal.
„Die brauchst du weder als Gefangene zu behandeln noch überhaupt bewachen zu lassen. Sie werden im Gegenteil die besten Beschützer für Frau Liama und Mademoiselle Marion sein. Es tut mir wirklich leid, daß ich nicht dabei sein kann, wenn ihr im Tagesgrauen über die Spahis herzieht. Der Coup gelingt natürlich auf alle Fälle.“
„Das versteht sich ganz von selbst. Aber ob wir uns für die Dauer hier halten sollen oder können, das ist eine andere Frage.“
„Nein, das ist im Gegenteil gar keine Frage. Nach dem, was wir von Mac Mahons Absichten wissen, ist es ganz notwendig, Etain und Umgegend festzuhalten. Wir müssen mit der Linie der Meuse in Fühlung stehen, und so versteht es sich ganz von selbst, daß man Schloß Malineau so besetzt, daß es nicht wieder verloren gehen kann. Ich werde das an geeigneter Stelle zum Vortrag bringen.“
„Gut, das beruhigt mich. Wann reitest du ab?“
„In einer halben Stunde.“
„Ah, einige Minuten für den Abschied.“
„Nein. Lassen wir die Damen immerhin schlafen! Was ich zu sagen hatte, das ist gesagt, und jetzt sind wir ja vor allen Dingen Soldat.“ –