Nachdem die angegebene Zeit vorüber war, sammelten sich zwei Züge Ulanen vor dem Schloß. Das geschah so geräuschlos wie möglich. Als sie sich in Bewegung setzten, ertönten die Rufe der französischen Wachen, und Schüsse krachten, einzeln, hier und da.
Die Deutschen gewannen jedoch die Straße und fegten im Karriere auf das Dorf zu.
Die Franzosen hatten, obgleich ein Verhau auf die leichteste Weise herzustellen gewesen wäre, die Straße offen gelassen, so daß die mutigen Reiter das Dorf erreichten und dasselbe auch passierten, ohne auf ein Hindernis zu treffen.
Hier nun gab Königsau ihnen den Befehl, wieder umzukehren. Sie gelangten in das Schloß zurück, ohne einen einzigen Mann zu verlieren. Nicht einmal verwundet war jemand worden, da es zu gar keinem Widerstand gekommen war.
Königsau und Fritz setzten ihren Weg fort. Vor Etain stießen sie auf die Vorposten des Majors Posicki, zu dem sie sich natürlich führen ließen. Königsau bat ihn, die Schwadron Ulanen zu ihrem Gros zurück zu dirigieren, wenn er die Überzeugung erhalten sollte, das Schloß bis zur Ankunft anderweiter Truppen halten zu können, und dann ritten sie weiter, die ganze Nacht hindurch.
Als sie am Morgen in Trouville anlangten, erfuhren sie, daß am vorigen Tag eine Schlacht gewonnen worden sei, die bekannte Schlacht von Vionville-Mars la Tour. Es hatten infolgedessen bedeutende Truppenverschiebungen stattgefunden, doch gelang es Königsau, über Saint Marcel hinaus das dritte Armeekorps zu erreichen, dessen Kommandanten er durch seine Darstellung bewog, ein genügend starkes Detachement nach Etain abzuordnen.
Hier, im Hauptquartier des dritten Korps erfuhr er auch, wo sich das große Hauptquartier befinde, welches er kurz nach Mittag erreichte. Die Offiziere und Beamten derselben befanden sich natürlich in ungeheurer Tätigkeit; aber als er meldete, daß er eine Nachricht von großer Wichtigkeit bringe, wurde er sofort Moltke angemeldet.
Er war kaum durch die eine Tür in das Vorzimmer getreten, als man durch die andere einen Mann brachte, welcher in Zivil gekleidet war und das Zeichen der Genfer Konvention, die Binde mit dem roten Kreuz am Arm trug. Ihn sehen und erkennen war eins. Er trat auf den Offizier, welcher diesen Mann begleitete, zu und fragte:
„Herr Hauptmann, bitte, wo waren Sie mit diesem Mann?“
„Drinnen!“ war die kurze Antwort, welche nichts anderes heißen sollte als: bei Moltke selbst.
„Wer ist er?“
„Er hat sich da in der Nähe herumgetrieben und verdächtig gemacht, doch ist es ihm gelungen, sich zu legitimieren. Er soll entlassen werden.“
„Wie nennt er sich?“
„Bonblanc aus Soissons.“
„Das ist eine große Lüge. Entlassen Sie ihn nicht. Geben Sie scharf acht auf ihn und warten Sie, bis ich da dringewesen bin.“
„Sapperlot. Kennen Sie ihn?“
„Nur zu gut.“
„Impossible!“ fiel der Mann ein, welcher sehr bleich geworden war.
Der Hauptmann blickte rasch auf.
„Alle Wetter“, sagte er. „Er hat Sie verstanden?“
„Natürlich. Er spricht ja sehr gut deutsch.“
„Und uns gegenüber behauptete er, kein Wort zu verstehen. Da, Herr Major, man winkt Ihnen, ich werde also auf das weitere warten!“
Als Königsau zu dem berühmten Schlachtendenker eintrat, saß dieser an einer langen Tafel, welche mit Karten und Plänen bedeckt war. Er erwiderte den Gruß des Majors mit einem ernsten, aber doch wohlwollenden Kopfnicken und sagte:
„Sie bringen Wichtiges?“
„Zu Befehl. Hier.“
Er zog den Brief hervor und gab ihn hin. Moltke las. Kein Zug seines Gesichtes veränderte sich. Er fragte nur:
„Wie gelangte dieses Schreiben in Ihre Hand?“
Königsau erzählte. Nachdem er geendet hatte, sagte Moltke:
„Also jener Kapitän Richemonte hat das Duplikat dieses Schreibens gehabt?“
„Ganz gewiß.“
„Es scheint ihm gelungen zu sein, es an den Adressaten zu bringen, wenigstens ist er unsererseits nicht ergriffen worden. Man ist Ihnen großen Dank schuldig, Herr Oberstwachtmeister, man wird sich Ihrer erinnern. Sie stoßen jetzt natürlich zu Ihrem Korps?“
„Nachdem ich mir die Bitte um eine Bemerkung gestattet haben werde.“
„Sprechen Sie.“
„Soeben wurde ein Mann abgeführt, der sich, wie ich auf meine Erkundigungen erfahren habe, Bonblanc nennt?“
„Ja. Was ist mit ihm?“
„Er sollte entlassen werden, ich habe aber dem Hauptmann die Weisung gegeben, im Vorzimmer mit ihm zu warten. Dieser Mann ist nämlich kein anderer als der Graf Rallion, dessen Sohn Oberst der Gardekürassiere war, welchem ich gestern auf Schloß Malineau den Kopf gespalten habe.“
Diese Nachricht brachte einen bedeutenden Eindruck hervor, von dem sich aber der große Schweiger nichts merken ließ.
„Kennen Sie ihn?“ fragte er.
„So genau wie mich selbst.“
„Nochmals herein mit ihm.“
Königsau öffnete die Tür und winkte dem Hauptmann, welcher sofort mit dem Grafen wieder eintrat. Dieser wollte leugnen, als aber Königsau auf die Narbe an der Hand wies, welche von der Verwundung herstammte, die der Graf von Fritz in der Klosterruine erhalten hatte, war es mit dem Leugnen aus.
Als kurze Zeit später Königsau mit Fritz das große Hauptquartier verließ, nahm er die Gewißheit mit, daß einer der größten Feinde seiner Familie sich im festen Gewahrsam befinde, und ihm nicht möglich sei, zu entkommen.
Das Schlachtfeld, über welches die beiden nun ritten, war ein solches, wie es selbst die Ebene von Leipzig nicht aufzuweisen hat, ein breit gedehntes, wellenförmiges Hochplateau.
Der Kampf hatte die Spuren einer wahrhaft grauenvollen Vernichtung hinterlassen. Die Felder waren mit Leichen förmlich bedeckt. Weithin schimmerten die roten Hosen der Feinde, die weißen Litzen der stolzen, zurückgeworfenen Kaisergarde, die Helme der französischen Kürassiere. Im Wirbelwind jagten die weißen Blätter der französischen Intendanturwagen gleich Möwenscharen über das Feld. Die Waffen blitzten weithin im Sonnenglanz, aber die Hände derer, welche sie geführt hatten, waren kalt, erstarrt, im Todeskampf zusammengeballt. Mit zerfetzter Brust und klaffender Stirn lagen sie gebrochenen Auges in Scharen am Boden. Schrittweise war jede Elle des Landes erkämpft worden. Zerschmetterte Leiber, Pferdeleichen, zerbrochene Waffen, Tornister, Zeltfetzen, Chassepots und Faschinenmesser lagen umher. Es war ein so entsetzliches Bild, wie es selbst Magenta, Solferino und Sadowa nicht geboten hatten. Wie roter Mohn und blaue Kornblumen leuchteten die bunten Farben der gefallenen Feinde auf dem Todesfeld, weithin über die Höhen, tief hinab in die Täler. Dazwischen die grünen Waffenröcke der Jäger, und hier und da ein umgestürzter Wagen.
Und in den Dörfern, durch welche die beiden ritten, sah es noch viel, viel gräßlicher aus als auf dem offenen Feld.
So ging es bis in die Gegend südlich von Hanonville, wo das Gardekorps lag und die beiden Offiziere endlich zu den Ihrigen stießen, um dort eine große Überraschung zu finden.
Königsau fand hier die Schwadron, welche er als Rittmeister kommandiert hatte. Sein Nachfolger in dieser Charge, welcher sich sofort bei ihm meldete, sagte nach der ersten Begrüßung und den notwendigen dienstlichen Auseinandersetzungen:
„Das Interessanteste für Sie werden unsere jetzigen Sanitätsverhältnisse sein. Darf ich Sie vielleicht ersuchen, mich einmal nach der Ambulanz zu begleiten?“
Königsau blickte ihn verwundert an und antwortete:
„Natürlich müssen mich auch unsere Sanitätsverhältnisse interessieren; aber die Art, in welcher Sie mich zur Besichtigung der Ambulanz auffordern, kommt mir doch ein wenig geheimnisvoll vor.“
„Das ist sie allerdings.“
„Es handelt sich doch nicht etwa um eine Überraschung?“
„Um nichts anderes.“
„Nun, so stehe ich zur Verfügung.“