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»Reißen Sie sich zusammen, Frau! Sie haben Pflichten als Volksgenossin! Wir sind im Krieg! Was glauben Sie, was der Russe mit Ihnen macht, wenn er hierherkommt? Glauben Sie, der Russe wirft einen Blick auf Ihr Kind und sagt, oho, ein frisches deutsches Mädel, aber dem Kinde zuliebe will ich meine niederen Instinkte in meiner Hose lassen? Das Fortbestehen des Deutschen Volkes, die Reinheit des Blutes, das Überleben der Menschheit steht in diesen Stunden, diesen Tagen auf dem Spiel, wollen Sie vor der Geschichte das Ende der Zivilisation verantworten, nur weil Sie in Ihrer unglaublichen Beschränktheit nicht willens sind, dem Führer des Deutschen Reiches den Weg in seine Reichskanzlei zu weisen?«

Es überraschte mich beinahe nicht mehr, dass ich darauf keinerlei Reaktion erntete. Die Idiotin riss ihren Ärmel aus meiner Hand, sah mich entgeistert an und führte mit ihrer flachen Hand mehrere kreisförmige Bewegungen zwischen ihrem und meinem Kopf aus, eine deutlich missbilligende Geste. Es war nicht mehr zu bestreiten, irgendetwas war hier völlig außer Kontrolle geraten. Ich wurde nicht mehr wie ein Heerführer behandelt, wie ein Reichsführer. Die Fußballbuben, der ältere Herr, der Radfahrer, die Kinderwagenfrau – es konnte kein Zufall sein. Mein nächster Impuls war, die Sicherheitsorgane zu benachrichtigen, um die Ordnung wiederherstellen zu lassen. Doch ich zügelte mich. Ich wusste nicht genug über meine Situation. Ich brauchte mehr Informationen.

Eiskalt rekapitulierte mein jetzt wieder methodisch arbeitender Verstand die Sachlage. Ich war in Deutschland, ich war in Berlin, auch wenn es mir völlig unvertraut vorkam. Dieses Deutschland war anders, aber in einigen Dingen ähnelte es dem mir vertrauten Reich: Es gab noch Radfahrer, es gab Automobile, es gab also vermutlich auch Zeitungen. Ich sah mich um. In der Tat lag unter meiner Bank etwas, was einer Zeitung ähnelte, allerdings ein wenig zu aufwendig gedruckt. Das Blatt war farbig, mir vollkommen unvertraut, es hieß »Media Markt«, ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, etwas Derartiges genehmigt zu haben, und ich hätte es auch nie genehmigt. Die Informationen darin waren völlig unverständlich, Groll stieg in mir hoch, wie man in Zeiten der Papierknappheit mit so einem hirnlosen Dreck wertvolle Ressourcen des Volkseigentums unwiederbringlich verschleudern konnte. Funk konnte sich auf eine Standpauke gefasst machen, wenn ich wieder hinter meinem Schreibtisch saß. Aber jetzt brauchte ich zuverlässige Nachrichten, einen »Völkischen Beobachter«, einen »Stürmer«, ich wäre wohl sogar fürs Erste mit einem »Panzerbär« zufrieden gewesen. Tatsächlich befand sich unweit ein Kiosk, und sogar auf diese beträchtliche Entfernung hin war zu erkennen, dass er ein erstaunliches Angebot zu haben schien. Man hätte meinen können, wir säßen im tiefsten, faulsten Frieden! Ich erhob mich ungeduldig. Schon zu viel Zeit hatte ich verloren, es galt, rasch geordnete Verhältnisse wiederherzustellen. Die Truppe brauchte Befehle, womöglich wurde ich andernorts schon vermisst. Ich ging zügig auf den Kiosk zu.

Bereits ein erster näherer Blick gab interessante Aufschlüsse. Zahlreiche bunte Blätter hingen an der Außenwand, in türkischer Sprache. Offenbar verkehrten hier jüngst viele Türken. Mir musste in meiner Bewusstlosigkeit eine längere Zeitspanne entgangen sein, in der sich viele Türken nach Berlin begeben hatten. Das war bemerkenswert. Zuletzt war der Türke, ein im Grunde treuer Gehilfe des Deutschen Volkes, trotz erheblicher Bemühungen stets neutral geblieben, zum Kriegseintritt an der Seite des Reiches war er nie zu bewegen gewesen. Es schien nun aber so, dass während meiner Abwesenheit wohl jemand, wahrscheinlich Dönitz, den Türken überzeugt haben musste, uns zu unterstützen. Und die eher friedliche Stimmung auf der Straße ließ darauf schließen, dass der türkische Einsatz offenbar sogar eine kriegsentscheidende Wende herbeigeführt hatte. Ich staunte. Gewiss, ich hatte den Türken stets respektiert, aber derartige Leistungen hatte ich ihm nie zugetraut, andererseits hatte ich die Entwicklung des Landes aus Zeitmangel nicht detailliert verfolgen können. Die Reformen des Kemal Atatürk mussten dem Land einen geradezu sensationellen Schub verliehen haben. Es schien das Wunder gewesen zu sein, an das auch Goebbels stets seine Hoffnungen geklammert hatte. Mein Herz schlug mir nun voll heißer Zuversicht. Es hatte sich ausbezahlt, dass ich, dass das Reich auch in der Stunde der vermeintlich tiefsten Dunkelheit niemals den Glauben an den Endsieg aufgegeben hatte. Vier, fünf unterschiedliche türkischsprachige Publikationen in bunter Farbe legten ein unübersehbares Zeugnis ab von dieser neuen, von einer erfolgreichen Achse Berlin-Ankara. Nun, da meine größte Sorge, die Sorge um das Wohl des Reiches, auf so überraschende Weise gelindert schien, nun musste ich nur noch herausfinden, wie viel Zeit ich wohl in diesem merkwürdigen Dämmer auf dem brachliegenden Areal zwischen den Häusern verloren hatte. Der »Völkische Beobachter« war nicht zu sehen, er war vermutlich ausverkauft, ich warf daher einen Blick auf das nächste, vertrauter wirkende Blatt, eine sogenannte »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Sie war mir neu, doch verglichen mit manchem anderen, was dort hing, erfreute mich die vertrauenerweckende Schrift der Titelzeile. Keinen Blick verschwendete ich auf die Meldungen, ich suchte das Tagesdatum.

Dort stand der 30. August.

2011.

Ich blickte auf die Zahl, fassungslos, ungläubig. Ich wandte den Blick zu einem anderen Blatte, der »Berliner Zeitung«, auch diese versehen mit einem tadellosen deutschen Schriftzug, und suchte das Datum.

2011.

Ich zerrte die Zeitung aus dem Halter, ich öffnete sie, ich schlug die nächste Seite auf, die übernächste.

2011.

Ich sah, wie die Zahl zu tanzen begann, höhnisch fast. Sie bewegte sich langsam nach links, dann rascher nach rechts, dann noch rascher wieder zurück, dem Schunkeln gleich, wie es bei den Volksmassen im Bierzelt beliebt ist. Mein Auge versuchte ihr zu folgen, sie zu fassen, dann entglitt mir die Zeitung. Ich spürte, wie ich vornübersank, ich suchte vergeblich Halt an den anderen Zeitungen im Regal, ich klammerte mich an den verschiedenen Blättern entlang zu Boden.

Dann wurde mir schwarz vor Augen.

ii.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden. Jemand legte mir etwas Feuchtes auf die Stirn.

»Geht es Ihnen gut?«

Über mich gebeugt war ein Mann, er mochte fünfundvierzig Jahre alt sein, vielleicht auch über fünfzig. Er trug ein kariertes Hemd, eine schlichte Hose, wie sie der Arbeiter trägt. Diesmal wusste ich, welche Frage ich zuerst stellen würde.

»Welches Datum haben wir?«

»Den mmmh – 29. August. Nein, halt, den 30.«

»Welches Jahr, Mann«, krächzte ich, mich aufsetzend. Der feuchte Lappen fiel mir unschön in den Schoß.

Der Mann sah mich stirnrunzelnd an.

»2011«, sagte er und musterte meinen Rock, »was haben Sie gedacht? 1945?«

Ich suchte nach einer passenden Entgegnung, richtete mich dann aber lieber auf.

»Sie sollten vielleicht noch etwas liegen bleiben«, sagte der Mann, »oder sich hinsetzen. Ich habe einen Sessel im Kiosk.«

Ich wollte zunächst sagen, dass ich für Entspannung keine Zeit hatte, musste aber einsehen, dass meine Beine noch zu sehr zitterten. Also folgte ich ihm in seinen Kiosk. Er selbst nahm auf einem Stuhl in der Nähe des kleinen Verkaufsfensters Platz und sah mich an.

»Ein Schluck Wasser? Brauchen Sie etwas Schokolade? Einen Müsliriegel?«

Ich nickte, benommen. Er stand auf, holte eine Flasche Sprudel und goss mir davon in ein Glas. Aus einem Regal nahm er einen bunten Riegel, wohl eine Art eiserner Ration, in farbige Folie gehüllt. Er öffnete die Folie, entblößte etwas, das aussah wie industriell verpresstes Korn, und drückte es mir in die Hand. Die Versorgungsengpässe mit Brot schienen noch nicht behoben.