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Er glaubte daran und freute sich in diesem seinem Glauben.

»Aber Nelly?« fragte Anna Andrejewna.

»Nelly? Nun ja, sie ist ein bißchen krank, das Herzenskind; aber bis dahin wird sie gewiß schon wieder gesund sein. Es geht ihr ja auch jetzt schon besser: meinst du nicht auch, Wanja?« sagte er; er schien plötzlich einen Schreck bekommen zu haben und blickte mich unruhig an, als müßte gerade ich seine Zweifel beseitigen können. »Was macht sie denn? Wie hat sie geschlafen? Es ist ihr doch nichts zugestoßen? Ist sie jetzt noch nicht aufgewacht? Weißt du was, Anna Andrejewna: wir wollen den Tisch schnell auf die Terrasse stellen und den Samowar dorthin bringen lassen; wenn dann unsere Freunde kommen, setzen wir uns alle dorthin, und Nelly kommt auch zu uns heraus. Das wird wunderschön sein. Ist sie denn noch nicht aufgewacht? Ich will mal zu ihr gehen. Ich will nur nach ihr sehen; beunruhige dich nicht; ich werde sie nicht aufwecken!« fügte er hinzu, als er sah, daß Anna Andrejewna wieder mit den Armen nach ihm hin gestikulierte.

Aber Nelly war schon wach. Nach einer Viertelstunde saßen wir alle wie gewöhnlich um den Tisch herum beim Abendtee.

Nelly war in ihrem Lehnstuhl herausgetragen worden. Der Arzt erschien und dann auch Masslobojew. Dieser brachte für Nelly einen großen Fliederstrauß mit; aber er selbst hatte ein sorgenvolles und anscheinend verärgertes Gesicht.

Beiläufig bemerkt: Masslobojew kam fast täglich. Ich habe schon gesagt, daß alle, und besonders Anna Andrejewna, ihn sehr liebgewonnen hatten; aber Alexandra Semjonownas wurde bei uns niemals auch nur mit einem Wort laut Erwähnung getan; auch Masslobojew selbst erwähnte sie nicht. Da Anna Andrejewna von mir gehört hatte, daß Alexandra Semjonowna noch nicht seine legitime Gattin geworden war, so hatte sie sich die Ansicht zurechtgelegt, es sei unzulässig, dieselbe in diesem Haus zu empfangen oder auch nur von ihr zu reden; das wurde denn auch streng beobachtet. Es war dies auch für Anna Andrejewna selbst charakteristisch. Wäre übrigens nicht Natascha bei ihr gewesen und hätte sich nicht das begeben gehabt, was sich begeben hatte, so wäre sie vielleicht nicht so heikel gewesen.

Nelly schien an diesem Abend besonders trüb gestimmt und sogar mit irgendeinem sorgenvollen Gedanken beschäftigt zu sein. Es war, als habe sie einen schlimmen Traum gehabt und denke nun über ihn nach. Aber über Masslobojews Geschenk freute sie sich sehr und betrachtete mit großem Genuß die Blumen, die in einem Glas vor ihr standen.

»Also hast du Blumen sehr gern, Nelly?« sagte der Alte. »Na, dann warte!« fügte er munter hinzu, »gleich morgen... na, du wirst ja selbst sehen!...«

»Ja, ich habe Blumen gern«, antwortete Nelly, »und ich erinnere mich, wie wir Mama einmal mit Blumen überraschten. Als wir noch dort waren« (›dort‹ bedeutete bei ihr jetzt das Ausland), »war Mama einmal einen ganzen Monat lang sehr krank. Heinrich und ich verabredeten uns, wenn sie aufstehen und zum erstenmal aus ihrem Schlafzimmer herauskommen würde, das sie einen ganzen Monat lang nicht verlassen hatte, dann wollten wir alle Zimmer mit Blumen schmücken. Das taten wir denn auch. Mama hatte am Abend gesagt, sie wolle am anderen Morgen unbedingt zu uns herauskommen und mit uns frühstücken. Wir standen ganz früh auf. Heinrich brachte viele Blumen, und wir schmückten das Zimmer mit grünem Laub und Girlanden. Auch Efeu war da und noch solche breitblättrigen Pflanzen (ich weiß nicht mehr, wie sie heißen) und noch andere, die sich überall anhäkeln, und große weiße Blumen waren da, und Narzissen waren da (die liebe ich von allen Blumen am meisten), und Rosen waren da, so herrliche Rosen, und noch viele, viele Blumen. Die hängten wir alle in Girlanden auf und stellten sie in Blumentöpfen hin. Und dann waren da noch solche Gewächse, die wie ordentliche Bäume aussahen, in großen Kübeln; die stellten wir in die Ecken und neben Mamas Lehnstuhl, und als Mama hereinkam, da war sie ganz erstaunt und freute sich sehr, und auch Heinrich war froh... Ich habe das alles noch jetzt in der Erinnerung...«

An diesem Abend war Nelly besonders schwach und in nervöser Erregung. Der Arzt beobachtete sie beunruhigt. Aber sie hatte sehr große Lust zu reden. So erzählte sie denn lange, bis zum Dunkelwerden, von ihrem früheren Leben »dort«, und wir unterbrachen sie nicht. »Dort« war sie mit ihrer Mama und mit Heinrich viel umhergereist, und die alten Erinnerungen traten in ihrem Gedächtnis wieder klar zutage. Sie erzählte mit sichtlicher Erregung von dem blauen Himmel, von den hohen Bergen, von den Schnee- und Eisfeldern, die sie gesehen hatte und durch die sie hindurchgefahren war, von den Wasserfällen im Gebirge; dann von den Seen und Schluchten Italiens, von den Blumen und Bäumen, von den Landleuten, von ihrer Tracht und von ihren braunen Gesichtern und schwarzen Augen; sie erzählte von verschiedenen Begegnungen und Erlebnissen, die sie gehabt hatten. Dann von den großen Städten und Palästen, von einer großen Kirche mit einer Kuppel, die einmal über und über mit buntfarbigen Lampen illuminiert worden war; dann von einer heißen südlichen Stadt unter blauem Himmel und am blauen Meer... Noch nie hatte Nelly uns so ausführlich von ihrem früheren Leben erzählt. Wir hörten ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Wir alle hatten bis dahin nur anderes aus ihrer Vergangenheit gewußt, nämlich was sie in dieser unfreundlichen, finsteren Stadt erlebt hatte, in dieser Stadt mit der erstickenden, betäubenden Atmosphäre, mit der verpesteten Luft, mit den kostbaren, aber immer mit Schmutz bespritzten Palästen, mit der trüben, blassen Sonne und den bösen, halbverrückten Menschen, von denen sie und ihre Mutter soviel zu leiden gehabt hatten. Und ich stellte mir vor, wie sie beide in dem schmutzigen Kellergeschoß an einem feuchten dunklen Abend eng umschlungen auf ihrem armseligen Bett gelegen und sich an ihre Vergangenheit erinnert haben mochten, an den verstorbenen Heinrich und an die Wunder fremder Länder... Und weiter stellte ich mir auch vor, wie Nelly sich an all das erinnert haben mochte, als sie bereits allein war, ohne ihre Mutter, und als die Bubnowa durch Schläge und viehische Grausamkeit ihren Widerstand hatte brechen und sie zu Schlechtigkeiten hatte zwingen wollen...

Aber schließlich überfiel Nelly ein Unwohlsein, und sie mußte wieder in ihr Zimmer getragen werden. Der alte Ichmenew bekam einen argen Schreck und machte sich Vorwürfe, daß er sie so lange hatte reden lassen. Sie hatte eine Art von Ohnmachtsanfall. Ein derartiger Anfall war bei ihr schon einige Male dagewesen. Als er vorüber war, verlangte Nelly dringend, mit mir zu sprechen; sie wollte mir etwas unter vier Augen sagen. Sie bat so inständig darum, daß der Arzt diesmal selbst forderte, daß man ihren Wunsch erfüllen möchte. So gingen denn alle aus dem Zimmer.

»Was ich dir sagen wollte, Wanja, ist dies«, sagte Nelly, als wir allein geblieben waren. »Ich weiß, sie denken, daß ich mit ihnen reisen werde; aber das werde ich nicht tun, weil ich es nicht kann; ich werde einstweilen bei dir bleiben; das mußte ich dir sagen.«

Ich begann ihr freundlich zuzureden; ich sagte ihr, bei Ichmenews hätten alle sie so lieb, daß sie sie wie eine leibliche Tochter behandelten. Eine Trennung von ihr würde allen ein großer Schmerz sein. Bei mir dagegen würde sie ein schlechtes Leben haben. Ich hätte sie zwar sehr lieb; aber es sei nichts zu machen, wir würden uns trennen müssen.

»Nein, es geht nicht!« antwortete Nelly in festem Ton. »Ich sehe jetzt oft im Traum meine Mama, und sie sagt zu mir, ich solle nicht mit ihnen wegziehen, sondern hierbleiben; sie sagt, ich hätte eine schwere Sünde damit begangen, daß ich den Großvater allein gelassen hätte; und wenn sie das sagt, so weint sie immer. Ich will hierbleiben und den Großvater pflegen, Wanja.«

»Aber dein Großvater ist ja schon gestorben, Nelly«, antwortete ich erstaunt.