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Während Nelly das sagte, war sie ganz blaß geworden; ihre Augen funkelten, und ihr Herz begann so heftig zu schlagen, daß sie auf die Kissen zurücksank und einige Minuten lang kein Wort herausbringen konnte.

»Rufe sie her, Wanja!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme; »ich will von ihnen allen Abschied nehmen. Leb wohl, Wanja!«

Sie umarmte mich krampfhaft zum letztenmal. Die Unsrigen kamen alle herein. Der Alte konnte es gar nicht fassen, daß sie so bald sterben solle; er konnte diesem Gedanken gar nicht Raum geben. Er stritt bis zum letzten Augenblick mit uns allen und versicherte, sie werde unfehlbar wieder gesund werden. Er wurde vor Sorge ganz mager und saß ganze Tag über und sogar nachts an Nellys Bett. In den letzten Nächten machte er kein Auge zu. Er suchte Nellys geringste Wünsche im voraus zu erraten, und wenn er aus ihrem Zimmer zu uns kam, so weinte er bitterlich, fing aber einen Augenblick darauf schon wieder an, zu hoffen und uns zu versichern, daß sie wieder genesen werde. Er stellte ihr ganzes Zimmer voll Blumen. Einmal kaufte er einen großen Strauß der prächtigsten weißen und roten Rosen, die er von irgendwoher für seine liebe, kleine Nelly geholt hatte... Durch all dies regte er sie sehr auf. Eine solche allgemeine Liebe erweckte in ihrem Herzen mit Notwendigkeit die gleichen Gefühle. An diesem Abend, dem Abend, an dem sie uns Lebewohl sagte, wollte der Alte durchaus nicht für immer von ihr Abschied nehmen. Nelly lächelte ihm zu und bemühte sich den ganzen Abend, heiter zu scheinen, scherzte mit ihm und lachte sogar... Wir alle hatten, als wir von ihr hinausgingen, beinahe wieder etwas Hoffnung; aber am anderen Tag konnte Nelly nicht mehr reden. Zwei Tage darauf starb sie.

Ich erinnere mich, wie der alte Mann ihren kleinen Sarg mit Blumen schmückte und voller Verzweiflung ihr abgemagertes, totes Gesichtchen, ihr totes Lächeln und ihre auf der Brust kreuzweise zusammengelegten Arme betrachtete. Er beweinte sie wie ein eigenes Kind. Natascha, ich und alle suchten ihn zu trösten; aber er war untröstlich und wurde nach Nellys Begräbnis ernstlich krank.

Anna Andrejewna händigte mir selbst das Amulett aus, das sie der Toten von der Brust genommen hatte. In diesem Amulett befand sich ein Brief von Nellys Mutter an den Fürsten. Ich las ihn an Nellys Todestag durch. Sie wandte sich an den Fürsten mit einem Fluch, sagte, daß sie ihm nicht verzeihen könne, schilderte ihr ganzes Leben in der letzten Zeit und das schreckliche Los, für das sie Nelly zurückließ, und beschwor ihn, wenigstens für das Kind etwas zu tun. ›Es ist Ihr Kind‹, schrieb sie, ›es ist Ihre Tochter, und Sie wissen selbst, daß sie Ihre legitime Tochter ist. Ich habe ihr befohlen, nach meinem Tod zu Ihnen zu gehen und Ihnen diesen Brief zu übergeben. Wenn Sie Nelly nicht verstoßen, dann werde ich Ihnen vielleicht in jener Welt verzeihen und am Tag des Gerichtes selbst vor Gottes Thron treten und den Richter anflehen, Ihnen Ihre Sünden zu vergeben. Nelly kennt den Inhalt meines Briefes; ich habe ihn ihr vorgelesen; ich habe ihr alles erklärt; sie weiß alles, alles...«

Aber Nelly hatte die Weisung der Sterbenden nicht erfüllt; sie hatte alles gewußt; aber sie war nicht zum Fürsten gegangen, sondern war unversöhnt gestorben.

Als wir von Nellys Begräbnis zurückgekehrt waren, gingen Natascha und ich in den Garten. Es war ein warmer, strahlend heller Tag. In einer Woche sollten sie fortziehen. Natascha sah mich mit einem langen, eigentümlichen Blick an.

»Wanja«, sagte sie, »Wanja, es war ja nur ein Traum.«

»Was war ein Traum?« fragte ich.

»Alles, alles«, antwortete sie, »alles in diesem ganzen Jahr. Wanja, warum habe ich dein Glück zerstört?«

Und in ihren Augen las ich den Gedanken:

»Wir hätten das ganze Leben miteinander glücklich sein können!«

Fußnoten

1

›Kinderlektüre für Herz und Verstand‹, ein in den Jahren 1785 bis 1789 von Karamsin und Petrow herausgegebenes Journal.

2

Romane von Michail Nikolajewitsch Sagoskin, erschienen 1829 bzw. 1830.

3

Dies bezieht sich auf Dostojewskis eigenen Erstlingsroman ›Arme Leute‹.

4

Wenn der Fürst die Gräfin heiratete, so konnte nach orthodoxem Kirchenrecht sein Sohn nicht mehr die Stieftochter der Gräfin heiraten, und umgekehrt; diese Ehe schloß die andere aus.

5

Gedicht von J. P. Polonski.

6

dritten Standes

7

der dritte Stand ist der wesentlichste Stand

8

der Hochmütige

9

Welch reizendes Gemälde!

10

Nach Schluß der Sitzungen des Admiralitätskollegiums um elf Uhr pflegten Peter der Erste und die Mitglieder des Kollegiums einen Schnaps zu trinken; daher der geläufige humoristische Ausdruck ›die Admiralsstunde‹.

11

Ich nehme mein Gutes [eher: meinen Vorteil] dort, wo ich es finde

12

Ehemann

13

Eine Redensart im Sinne von: Unsere Freundschaft hat ein Loch bekommen.

14

Je schlimmer, desto besser!

15

Was für eine Idee, mein Lieber

16

Lassen Sie uns trinken, mein Freund