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Und der da, in der ersten Bank der Fensterreihe: Das bin ich. Ich bin auch einer von ihnen. Aber was soll ich über mich sagen? Was soll ich über mich sagen, nachdem ich über all die andern nachgedacht habe und dabei nicht glücklicher geworden bin.

Dienstag, 25. Mai 1982

Im Halbschlaf registriert sie das Aussickern der Finsternis und gleichzeitige Zunehmen des Lichts, das in das große Zimmer voller dunkler Möbel schlüpft. Es wäre praktisch, über eine Automatik zu verfügen, mittels deren sich, vom Bett aus, ein Fenster öffnen ließe: Raus mit der schalen Luft, dem Gemisch aus Atem, Roßhaarmatratze und gründlich verbrannter Milch. Ihr Mann hat vor drei Tagen, als sie mit dem Kulturkreis in Kalkwang war, einen halben Liter Milch acht Stunden lang gekocht. Die Milch war bei Almas Heimkehr in schwarzen Klastern an Topf und Herd sedimentiert, und abgesehen von der Mühe und der Zeit, die es kostete, den Herd mit Stahlwolle und Scheuermittel sauber zu bekommen (der Topf wanderte geradeaus in den Müll), vermutet Alma, daß der Geruch so rasch aus dem frisch gestrichenen Haus nicht hinausgehen wird. Sie selbst wird den Geruch heute vielleicht nicht mehr wahrnehmen, kann sein. Aus Gewohnheit. Aber jeder, der ins Haus tritt, hat dieses Alte-Leute-Aroma in der Nase. Befürchtet sie. Gut, mag sein, sie sieht das zu pessimistisch, mag sein, sie ist überempfindlich, weil ihr diese Dinge zu Bewußtsein bringen, daß es irgendwann nicht mehr weitergehen wird. Der Nagelzwicker im Kühlschrank, das schmutzige Unterleibchen, das Richard ausziehen sollte, unter dem übergestreiften frischen. Die Pizza mitsamt der Plastikhülle im Backrohr. Eigentlich harmlos. Und trotzdem: beängstigend, grauenvoll kommt ihr das vor, weil anzunehmen ist, daß es schlimmer werden wird. Irgendwann wird Richard fragen, ob Der Wolf und die sieben Geißlein eine Geschichte von Kindsmord ist. So Sachen hat sein Vater gegen Ende gefaselt. Oder er wird, wie Alma es beim Besuch im Seniorenheim erlebt hat, anfangen zu krähen, wenn ein Gockel im Fernsehen es vormacht. Abwarten, das wird gewiß noch geboten. Früh genug. Unruhig dreht sie sich im Bett. Nach mehreren unbefriedigenden Versuchen, eine bequemere Lage zu finden, bleibt sie halb auf dem Bauch liegen, den rechten Arm abgewinkelt oberhalb des Kopfes, den linken quer über der Brust, die Finger rechts an Hals und Ohr, die Decke zwischen den Beinen, damit die Schenkel einander nicht berühren. Almas Kopf liegt wangenseitig am Bettrand, zur Hälfte über der Bettkante, damit das Gesicht etwas von der kühlen Luft abbekommt, die unter dem Bett steht. Einige Minuten noch. Abwarten.

Dies.

Es ist der Hochzeitstag von Ingrid, ihrer Tochter, und zugleich der Sterbetag ihrer Mutter. Erst als Alma beim Begräbnis Geburts- und Sterbejahr auf dem provisorischen Holzkreuz eingebrannt sah, begriff sie, daß ihre Mutter fast hundert Jahre gelebt hatte. Hundert Jahre. Muß man sich durchs Gehirn laufen lassen. Almas Mutter sah als Kind, wie ihr Vater, Almas Großvater, neben einer Glaskugel arbeitete, um das Licht zu verstärken, das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Sie spielte am unregulierten Wienfluß im Bereich, wo jetzt die U-Bahn fährt, und nahe beim Karlsplatz ging sie auf dem Weg zur Arbeit über die Elisabethbrücke, die mit den Statuen geschmückt war, die mittlerweile im Arkadenhof des Rathauses stehen. Manchmal erzählte sie von einer Nähmaschine mit Fußantrieb, auf der sie als Mädchen lernen durfte. Damals ein halbes Wunderding. Bis zuletzt holte Almas Mutter voller Stolz ein auf dieser Maschine genähtes Unterkleid hervor, das war, als die Menschen bereits Atombomben geworfen und vom Weltraum aus die Erde gesehen hatten.

— Es ist arg, seufzt Alma halblaut, als würde es nicht genügen, das zu denken.

Alma selbst sah, wie der Mistbauer kam. Er läutete mit einer großen Messingglocke, und ihre Mutter lief mit dem stinkenden Mistkübel hinunter und stimmte den Mistbauern, einen primitiven Menschen, mit zwei Zigaretten gnädig, damit er von der Höhe des Wagens den Mistkübel wieder herunterreichte und ihn nicht aufs Pflaster warf. Bong! Sieben Jahrzehnte liegt das zurück oder besser, sieben Jahrzehnte sind seither vergangen, denn liegen klingt, als könne man hingehen und es abholen. Alma wird in diesem Jahr fünfundsiebzig, und Richard feiert demnächst seinen Zweiundachtzigsten. Sie weiß, das kann man unterschiedlich deuten, denn viele würden sich beglückwünschen bei der Aussicht, in diesem Alter noch am Leben zu sein. Aber wenn man es erst einmal bis hierher geschafft und den Achtziger, den andere sich lediglich wünschen, überschritten hat, ist der Gedanke an die, die es schlechter treffen, ein schwacher Trost, denn das eigene Leben wird dadurch nicht leichter.

Seit Richards Kopf nicht mehr mitmacht, merkt man ihm den Verfall auch körperlich an. Seine Vergeßlichkeit hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen, die längst sichtbar waren, das Charmante genommen und sie in etwas Schrundiges und Krummes verwandelt. Richards Gang ist knieweich und absatzschleifend, und jeder Schritt bedarf einer genauen Beobachtung durch die Augen, als könnte jeder Schritt mittendrin abreißen. Für Richard bezeichnet der Tod keinen Endpunkt mehr, auf den man nach und nach zustrebt, sondern eine Bedrohung in unmittelbarer Nähe, mit der er rechnet, wenn er Pläne schmiedet, die über einen absehbaren Zeitraum hinausreichen. Richard, so er nicht auch das gerade vergessen hat (bei dem vielen, das von seiner Vergeßlichkeit betroffen ist), besitzt ein neu gewonnenes Zeitgefühl für das, was ihm an Zukunft bevorsteht. Als würde für das Errechnen der Jahre, die einem bleiben, eine kindliche Richtlinie gelten: Was sich an einer Hand nicht abzählen läßt, ist eine unbestimmbare Größe und lohnt das Nachdenken nicht. Eins zwo drei vier fünf, wenn es gutgeht, oder zurück, vier drei. Schon nicht mehr ganz so weit weg.

Alma weiß gefühlsmäßig, daß Richard in dieser Größenordnung denkt. Und obwohl er das Thema beharrlich ausklammert, weiß sie in mindestens gleichem Maß, daß für Richard die verbleibende Spanne weder hinsichtlich ihrer Länge noch ihrer Qualität Anlaß gibt, in Jubel auszubrechen — wohl einer der Gründe, weshalb ihm das Aufstehen so schwerfällt. Man sieht ihn selten vor zehn. Alma würde gerne dahinterkommen, was Richard in seinem Zimmer mit der vielen Zeit anfängt, ob ihn ähnliche Überlegungen umtreiben wie sie. Aber nach aller Wahrscheinlichkeit reicht die Kraft nicht zu mehr, als an die Decke zu starren und sich zu wünschen, daß alles auf einen Schlag besser wird: Es kommt zurück. Wenn ich nur fest daran glaube, kommt alles zurück. Alma, die nie eine Langschläferin war, zieht es bei weitem vor, den Tag sehr zeitig zu beginnen. Sie mag es, wenn sie das Haus und den Garten vier Stunden für sich hat. Mit all den Geräuschen, Gerüchen, Erinnerungen — an die Jahre, als sie in die Volksschule ging, wo auch den Kleinsten die Klassiker vorgelesen wurden: Die Menschen treiben aneinander vorbei, einer sieht nicht den Schmerz des anderen. Oder so ähnlich. Derlei Dinge kommen ihr morgens in den Sinn. Die Gedanken in der Früh tragen ziemlich weit, findet sie. Weiter als am Abend. Sie muß zugeben, daß dies eine der Ursachen ist, die sie davon abhält, Richard morgens aus dem Bett zu helfen, so schäbig ihr das manchmal vorkommt.

Sie setzt sich auf, schiebt die Beine unter der Decke hervor. Mit beiden Händen greift sie an die Bettkante, dort hockt sie, gekrümmt, den Kopf tief zwischen den Schultern, den Blick zum Schoß hin, über dem sich das Nachthemd spannt mit kleinen blauen Blumen. Nach einer Weile, während der sie sich die grauen Haare aus dem Gesicht gestrichen hat, nimmt sie den Morgenmantel vom Sessel, schlüpft hinein und tritt zum Fenster, das sie öffnet. Zwei Vögel queren den wie mit Rauch verhangenen Himmel nach Westen, dem Tag voran. Alma schaut ihnen hinterher. Dann senkt sie den Blick in einem Bogen hinunter in den Garten zum Bienenhaus, dorthin, wo sie in einer Stunde mit der Arbeit beginnen will. Die Wettervorhersage hat Besserung versprochen an allen Fronten. Die Helligkeit nimmt langsam zu. Die stellenweise von der Sonne fast schwarzen Bretter, aus denen das Bienenhaus gefertigt ist, haben sich während der Nacht zusätzlich mit Dunkelheit vollgesogen. Doch der blaßtürkise Fensterladen neben der Tür und die Flechten auf den Dachziegeln schimmern bereits in einem wasserhellen Licht, das im Bereich der Baumkronen weiter an Farbe verliert. Dann wieder das Bienenhaus, ganz plump, starr unter dem Rascheln des ausgreifenden Astes, die Seitenansicht in Pi-Form gezimmert, ein wenig irrational wie die Zahl. Alma denkt, daß dieser kleine Schuppen mit den sechs Völkern eine stets sich erneuernde Arbeit für Wochen und Monate bereithält: Schon erstaunlich.