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Es war nicht das erste Mal, daß Richard seine Pläne wegen eines plötzlichen Anflugs von Willensschwäche unter dubiosen Vorwänden aufschob. Doch da Richard sich seit einigen Jahren immer einsperrte, bekam es Alma mit der Angst zu tun. Sie dachte, womöglich ist er ernsthaft krank und spielt es herunter, weil Krankheit für einen Mann wie ihn eine schwer zu ertragende Schande ist, vergleichbar mit mutwilliger Sachbeschädigung. Dem Tonfall nach, fand sie, grantelte er auch überraschend wenig. Das schien ihr ein weiteres schlechtes Zeichen. So war es nur konsequent, daß sie Dr. Wenzel anrief und ihn bat vorbeizukommen.

Dr. Wenzel traf zwanzig Minuten später ein, klopfte einmal kräftig an Richards Tür und nannte nach einer wohlkalkulierten Pause mit lauter Stimme Beruf und Namen, was Richard beeindruckte. Er öffnete die Tür bereitwillig (beflissen, diensteifrig) und sagte:

— Besten Dank, daß Sie gekommen sind.

Er war im offenen Schlafrock und sah erschöpft aus. An seinem Pyjama zeichneten sich große Schweißflecken ab, als bedeute Schlafen und Im-Zimmer-Sitzen für ihn eine anstrengende Arbeit. Alma tat es weh, ihn so zu sehen, so abgezehrt und mitgenommen. Richtig versackt sah er aus. Ein Bild des Jammers. Deshalb und um ihm die Sache ein bißchen leichter zu machen, verzog sie sich nach unten.

Dr. Wenzel blieb eine ganze Weile bei Richard. Das Gespräch dauerte gut fünfzehn Minuten, in der Zwischenzeit flickte Alma ihre Regenhaut, die linke Ärmelnaht war gerissen. Als Dr. Wenzel wieder herunten war, berichtete er, das Gespräch habe vor allem die eine Aussage gebracht, daß Richard sich den Kopf zerbreche, wie er zu Geld kommen könne. Richard wisse nicht mehr, daß er nur auf die Bank gehen und von seinem Konto abheben müsse, soviel er wolle.

Dr. Wenzel sagte:

— Es ist ein Jammer. Irgendwann verläßt einen die Kraft. Man möchte es nicht für möglich halten. Ein Minister a.D.

— Adé, wie’s die Sieben Schwaben sagen. Auf Wiedersehen, servus.

Zum Beispiel, wenn er auf Dienstreise gefahren war: Auf Wiedersehen, Richard. Auf Wiedersehen, Alma, baba.

Dr. Wenzel erläuterte, daß Richard sehr wohl wisse, wie sehr er momentan mental im Eck sei (Richards eigene Worte). Richard befinde sich in einer Grauzone zwischen dem Ist-Zustand, den er verständlicherweise ablehne, und der Leistungsfähigkeit von früher, an die er sich in Schreckmomenten erinnere, von der er auch eine Vorstellung besitze, doch ohne daß daraus abzuleiten wäre, wie eine Besserung der Situation herbeigeführt werden kann. Er verfüge noch über die theoretische Kenntnis seiner einstigen Möglichkeiten, das bringe ihm die gegenwärtigen Mängel um so stärker zu Bewußtsein. Vermutlich deshalb habe er in erster Linie von den glorreichen alten Zeiten erzählt und sich über die Gegenwart nur beiläufig und voller Zorn und Verbitterung geäußert.

— Am besten, Sie schaffen sich schön langsam ein dickes Fell an, riet Dr. Wenzel.

— Das ist leicht gesagt, aber auf Dauer nicht immer möglich. Mit der Zeit greift das entschieden die Nerven an.

— Sie dürfen es nicht allzu ernst nehmen.

— Na, man wird sehen. Ich gebe mir jedenfalls Mühe.

Dr. Wenzel verabschiedete sich. Sowie er das Haus verlassen hatte, kam Richard herunter, zum Weggehen gekleidet, mit zwei Anzugjacken übereinander. Die Jacken waren farblich aufeinander abgestimmt und machten Richard in den Schultern recht imposant. Er telefonierte mit Frau Ziehrer, seiner langjährigen Sekretärin, wann er sie besuchen dürfe.

— Das ist hervorragend. Dann komme ich bis in einer Stunde.

Alma, die mittlerweile mit allem rechnete, befürchtete, daß Richard Frau Ziehrer bitten werde, mit ihm eine Bank aufzusuchen. Also fragte sie ihn:

— Wohin willst du?

— Einen Besuch machen.

— Aber dafür brauchst du keine zwei Anzugjacken.

Es gelang ihr nach einigem Hin und Her, ihm die zweite Anzugjacke abzujagen. Da sagte er mürrisch:

— Da du mich jetzt so lange aufgehalten hast, muß ich den Wagen nehmen.

— Vergiß bitte nicht, daß auf deiner Kraftfahrzeugssteuerkarte die Steuermarken für den letzten und diesen Monat noch nicht geklebt sind.

Seine Augen wurden wieder groß.

— Auf deiner KFZ-Karte! Die Steuermarken! wiederholte Alma.

— Bei mir verstärkt sich der Eindruck, du erfindest das nur, um mich zu ärgern und weil ich im Moment knapp bei Kasse bin.

Sie zeigte ihm ihre eigene Karte:

— Die gleiche gibt es für deinen Wagen.

Der Groschen fiel wieder nicht, und als Richard in doppelter Lautstärke seinen Verdacht erneuerte, das sei alles nur, um ihn zu ärgern, ließ Alma das Thema fallen, eingedenk des sachdienlichen Rates, den Dr. Wenzel ihr vor wenigen Minuten gegeben hatte, sie solle Richard im Zweifelsfall nicht allzu ernst nehmen. Na gut. Des Lebens Abendröte. Sie sagte sich: Ich muß schön langsam anfangen umzudenken. Am besten, ich schicke ihm eine Streife hinterher. Er gibt ja selbst zu, daß er Abstände nicht mehr richtig einschätzen kann. Außerdem habe ich vor einigen Wochen beobachtet, wie er beim Salatessen mehrmals Anstalten machte, eine auf den Teller gemalte Blattverzierung auf die Gabel zu laden. Erst nach dem dritten oder vierten Versuch begriff er, daß der Teller leer war.

Alma ließ Richard gewähren, sie tat so, als würde sein Weggehen ihr schon nichts mehr ausmachen.

— Wo ist mein Hut? wollte er wissen.

— Am Garderobenhaken, sagte sie mit Nachsicht.

Und wenig später, wohlwollend:

— Paß auf dich auf.

Aber noch während sie den Wagen die Auffahrt hinunterrollen hörte, rief sie bei der Polizei an mit der Bitte, man möge Richard den Führerschein wegnehmen. Dann Anruf bei der Kammer, wo man ihr mitteilte, daß Frau Ziehrer frei habe. Sie probierte es bei Frau Ziehrer zu Hause. Erfolgreich. Alma sagte, daß sie — bevor sie ihre Bitte ausspreche — einiges erzählen wolle, so, daß Richard überall behaupte, sie (Alma) nenne ihn Mörder. Und daß er beim Weggehen zwei Anzugröcke übereinander anziehen wollte mit der Begründung, daß er nichts anderes habe. Zuletzt kam sie zum Eigentlichen und bat Frau Ziehrer, sie solle ihr die Demütigung ersparen, mit Richard auf die Bank zu gehen, falls er sie darum ersuchen sollte.

— Sie wollen damit sagen, der Herr Doktor ist deppert.

— Ich habe dieses Wort nicht gebraucht.

— Nein, gebraucht nicht, aber Sie haben mir den Herrn Doktor so beschrieben, daß ich es bei mir nicht anders als mit deppert zusammenfassen kann. Und wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war nichts zu merken, das auf einen Zustand schließen ließe, wie Sie ihn schildern. Sie haben nicht immer recht, Frau Doktor Sterk. Schon vor Jahren war ich schockiert, als Sie dem Herrn Kommerzialrat Lonardelli sagten, Ihr Mann wisse nicht mehr, was er rede.

Frau Ziehrer hielt Alma eine minutenlange Predigt mit Vorwürfen, daß Alma die Spucke wegblieb. Als auch Ingrid darin vorkam, Alma hätte seinerzeit das Briefgeheimnis verletzt, als sie Richards Brief an Peter gelesen habe, legte Alma auf. Sie fand, solche Anschuldigungen müsse sie sich nicht gefallen lassen. Immerhin (sollte man annehmen) wird auch Frau Ziehrer Richards Gedächtnislücken bemerkt haben. Die sind groß genug, so was kann man nicht übersehen. Oder doch? Nein. Alma schüttelte wiederholt den Kopf, schockiert über soviel Haß und Verdrehung. Sie bereute das Gespräch aber nicht. So sah sie immerhin, wie richtig Richards Ausspruch war, der bei ihr seinerzeit mehr Verwunderung als Zustimmung ausgelöst hatte: Daß man die Fehler, die man selbst begeht, den Leidtragenden nicht verzeiht.