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»Herr, aber Herr! Der Stoff ist gut, sage ich Ihnen, greifen Sie zu, bevor er teurer wird … Greifen Sie nur rasch zu, bevor die Agenten Pakins wieder alles zusammenraffen …«

»Vor allem, mein Sohn, zweifle nicht! Glaube nur, das ist das allerwichtigste. Wenn einmal die Behörden eingreifen, so heißt das, sie wissen schon, was sie tun …«

Schon wieder hat man jemanden mißhandelt, dachte Rumata. Er wäre am liebsten umgekehrt, hätte einen weiten Bogen gemacht um diese Stelle, von der die Menge herströmte und wo man »Weitergehen!« und »Auseinander!« rief. Aber er kehrte nicht um. Er fuhr nur mit einer Hand über sein Haar, damit nicht eine herabfallende Strähne den Stein in seinem goldenen Stirnreif bedecke. Der Stein war aber kein Stein, sondern das Objektiv einer Fernsehkamera, und der Reif war kein Reif, sondern ein Sender. Die Historiker auf der Erde sahen und hörten alles, was die zweihundertfünfzig Kundschafter auf den neun Kontinenten dieses Planeten sahen und hörten. Und deshalb waren die Kundschafter verpflichtet, zu schauen und zu horchen.

Das Kinn vorgeschoben und die Schwerter zur Seite gespreizt, um möglichst viel Volk zu verdrängen, ging er geradewegs auf die Straßenmitte zu. In die Gaffer kam Leben, sie gaben ihm eilig den Weg frei. Vier breitmäulige Träger mit angemalten Lippen trugen eine silberglänzende Sänfte vorbei. Hinter den Vorhängen schaute ein schönes, kaltes Frauengesicht mit halbgeöffneten Lidern hervor. Rumata riß den Hut herunter und verbeugte sich. Es war Dona Okana, die derzeitige Favoritin des Lichten Adlers, Don Rebas. Als sie den hochedlen Kavalier erblickte, lächelte sie ihm bedeutungsvoll und schmachtend zu. Auf Anhieb hätte man zwei Dutzend edle Dons aufzählen können, die viel darum gegeben hätten, mit einem solchen Lächeln von ihr bedacht zu werden. Ein solches Lächeln war heutzutage ein rares Stück und geradezu unbezahlbar. Rumata blieb stehen und begleitete mit seinen Blicken die Sänfte. Ich muß mich entschließen, dachte er. Ich muß mich jetzt endlich entschließen … Bei dem Gedanken, was ihn das kosten würde, lief es ihm kalt über den Rücken. Aber es mußte sein! Ich muß … Beschlossen ist beschlossen, dachte er, und außerdem bleibt mir ja nichts anders übrig, es gibt keinen andern Weg. Heute abend. Er kam an der Waffenhandlung vorbei, wo er vorher die Dolche ausprobiert und den Gedichten gelauscht hatte, und blieb stehen. So also ist das gewesen … Das heißt also, diesmal warst du an der Reihe, guter Vater Hauk …

Die Menge begann sich schon zu zerstreuen. Die Tür des Ladens war aus den Angeln gerissen, die Scheiben eingeschlagen. Im Eingang lehnte ein bulliger Sturmowik im Grauenhemd, die Füße gekreuzt. Ein zweiter Sturmowik hockte an der Mauer. Der Wind trieb ein paar zerfetzte beschriebene Blätter Papier über die Straße. Der bullige Sturmowik steckte einen Finger in den Mund, saugte eine Weile daran, zog ihn wieder heraus und betrachtete ihn aufmerksam. Der Finger blutete. Der Sturmowik fing den Blick Rumatas auf und sagte mit wohlgefälliger, heiserer Stimme: »Es beißt, das Biest … wie ein Iltis …«

Der zweite Sturmowik kicherte diensteifrig. So ein schütterer, bleicher Jüngling, unsicher noch und mit Pickeln um den Mund. Auf den ersten Blick war es klar: Ein Neuling, ein junges Scheusal, ein Wölfchen …

»Was war hier los?« fragte Rumata.

»Einen geheimen Bücherwurm hat man gehetzt«, sagte der junge Wolf nervös.

Der Bullige steckte wieder seinen Finger in den Mund, ohne seine Haltung zu ändern.

»Ha-a-altung!« kommandierte Rumata halblaut. Der Jungwolf sprang eilig auf und nahm seine Axt, wie es sich gehörte. Der Bullige überlegte eine Weile, setzte aber dann doch seine Füße nebeneinander und stand ziemlich gerade da. »Also, was für ein Bücherwurm?« erkundigte sich Rumata. »Keine Ahnung«, sagte der Welpe. »Auf Befehl des Vater Zupik …«

»Na und? Haben sie ihn gefaßt?«

»Ja, genau! Sie haben ihn gefaßt!«

»Gut so«, sagte Rumata.

Das war also wirklich gar nicht so übel. Es blieb noch Zeit. Nichts ist wertvoller als Zeit, dachte er. Eine Stunde kostet das Leben, ein Tag ist unbezahlbar.

»Und wo habt ihr ihn hingeschafft? In den Turm?«

»Hä?« fragte der Jungwolf völlig geistesabwesend. »Ich frage dich, ist er jetzt im Turm?«

Über das Pickelgesicht floß ein unsicheres Lächeln. Der Bullige kicherte gurgelnd. Rumata wandte sich rasch um. Dort, auf der andern Straßenseite, hing am Querbalken eines Haustors wie ein Lumpensack die Leiche Vater Hauks. Einige heruntergekommene kleine Kinder starrten ihn mit weitaufgerissenem Mund an. »Heutzutage kommt nicht jeder in den Turm«, ertönte hinter seinem Rücken die heisere Stimme des Bulligen. »Heutzutage geht das rasch bei uns. Schlinge ums Ohr – und ab mit ihm …« Der Jungwolf fing wieder zu kichern an. Rumata sah ihn aus blinden Augen an und ging dann langsam über die Straße. Das Gesicht des traurigen Poeten war schwarz und unkenntlich. Rumata senkte die Augen. Nur die Hände waren ihm vertraut, lange schwache Finger, mit Tinte bekleckst …

Heute geht man nicht aus dem Leben, heut wird man aus dem Leben geführt. Und wenn jemand wünscht, daß es anders sei, kraftlos und ungeschickt fallen die schwachen Hände. Sie wissen nicht, wo der Polyp sein Herz hat, und ob der Polyp ein Herz hat …

Rumata wandte sich ab und ging davon. Guter schwacher Hauk … Der Polyp hat ein Herz. Und wir wissen, wo es ist. Und das ist das Allerschrecklichste, mein stiller, hoffnungsloser Freund. Wir kennen seinen Sitz, aber wir können es nicht zerhauen, ohne das Blut Tausender verängstigter, korrumpierter, blinder, kritikloser Menschen zu vergießen. Und es sind so viele, so hoffnungslos viele, so viele düstere, verzweifelte Menschen, verhärtet von dauernder Arbeit, ohne gerechten Lohn. Erniedrigte Menschen, die noch nicht fähig sind, sich über das Ideal von elenden Kupfergroschen zu erheben … Und man kann sie noch nicht lehren, vereinen, lenken und sie vor sich selber retten. Zu früh, viel zu früh, um ein Jahrhundert zu früh erhob sich in Arkanar das Graue Geschmeiß, es trifft auf keinen Widerstand. Und so bleibt nur eines: Die wenigen zu retten, die man noch retten kann. Budach, Tarra, Nanin und noch ein Dutzend andere oder zwei Dutzend vielleicht … Aber allein der Gedanke daran, daß Tausende andere, wenn auch vielleicht weniger begabte, so doch ehrliche und wirklich edle Menschen zum Untergang verurteilt waren, rief in Rumata ein Gefühl eisiger Kälte hervor und ein Gefühl seiner eigenen Niederträchtigkeit. Manchmal wurde dieses Gefühl so stark, daß sich sein Bewußtsein verfinsterte, und dann konnte Rumata buchstäblich bei hellichtem Tag die Rücken der Grauen Brut sehen, wie sie durch lilablitzende Gewehrschüsse erleuchtet waren; und das sonst immer so unansehnliche bleiche Gesicht Don Rebas, das nun von stinkenden Mücken über und über zerfressen war; und den Turm der Fröhlichkeit, der langsam in sich selbst zusammenstürzte … Ja, das wäre herrlich. Das wäre eine wirkliche Sache. Ein wirklich makroskopischer Eingriff. Aber dann … Ja, sie haben recht im Institut. Dann kommt das Unausbleibliche. Blutiges Chaos im ganzen Land. Die Nachtarmee des Waga Koleso kommt an die Oberfläche, zehntausend Meuchelmörder, die Ausgestoßenen aller Kirchen, Schandböcke, Sexualverbrecher und alle Arten schädlicher Elemente; die Horden der kupferhäutigen Barbaren ergießen sich von den Bergen herab und vernichten alles, vom Säugling bis zum Greis; unübersehbare Mengen von Bauern und Bürger, vor Schrecken blind, laufen in die Wälder, in die Berge, in die Wüste; und deine Mitstreiter – diese fröhlichen, tapferen Menschen! – schlitzen sich gegenseitig den Bauch auf im grausamen Kampf um die Macht und um dein Maschinengewehr, nach deinem unausweichlich gewaltsamen Tod … Und dieser dumme, plumpe Tod kommt aus einer Schale Wein von einem Freund oder von einem Armbrustpfeil hinter einem Vorhang hervor. Und dann das versteinerte Gesicht deines Nachfolgers, der von der Erde hierher gesandt wird und ein ausgestorbenes Land vorfindet, von Blut durchtränkt und von Bränden zerstört, in dem man alles, alles, alles wieder von vorn beginnen muß …

Als Rumata die Tür seines Hauses aufstieß und in den prächtigen, aber schon etwas baufälligen Vorraum eintrat, war sein Gesicht düster wie eine Wetterwolke. Muga, der bucklige, grauhaarige Diener, der schon vierzig Jahre lang Lakai war, krümmte sich bei seinem Anblick noch mehr zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern, als der wütende junge Herr Hut, Umhang und Handschuhe von sich riß, den Fes mit den Schwertern auf die Bank schleuderte und eilig in sein Zimmer hinaufging. Im Salon erwartete ihn der Knabe Uno.

»Befiehl das Mittagessen aufzutragen!« brüllte Rumata. »Ins Herrenzimmer!«

Der Knabe rührte sich nicht.

»Jemand wartet dort auf Sie«, meldete er mürrisch. »Wer?«

»Irgendeine junge Frau. Oder vielleicht eine Dona. Dem Benehmen nach eine junge Frau, liebenswürdig. Aber angezogen ist sie wie eine Edle, schön ist sie.«

Kyra, dachte Rumata erleichtert. Der Gedanke besänftigte ihn sofort. Oh, wie gut! Wie hat sie es geahnt, meine Kleine … Er blieb mit geschlossenen Augen stehen, um sich zu sammeln. »Verjagen, wie?« fragte der Knabe geschäftig. »Esel du«, sagte Rumata. »Ich werde gleich dich verjagen!… Wo ist sie denn?«

»Im Herrenzimmer halt«, sagte der Knabe und lächelte ungeschickt. Rumata ging rasch zum Herrenzimmer.

»Laß ein Mittagmahl für zwei auftragen«, sagte er im Gehen. »Und sieh dich vor: Niemand wird eingelassen! Nicht einmal der König – oder der Teufel – oder Don Reba selbst …«

Sie war wirklich im Herrenzimmer. Sie saß in einem großen Fauteuil, die Beine seitlich untergeschlagen, den Kopf auf ihre kleine Faust gestützt, und blätterte zerstreut im Traktat über Gerüchte. Als Rumata eintrat, wollte sie sich rasch erheben. Er ließ ihr aber keine Zeit dazu, eilte zu ihr, umarmte sie, fuhr mit der Nase in ihr dichtes, duftendes Haar und sagte leise: »Zur rechten Zeit, Kyra!… Wie gut!…«