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Er biß die Zähne zusammen, fühlte, wie sich in seinem Innern alles verkrampfte und zu Eis erstarrte, dann öffnete er leise die Tür und trat auf Zehenspitzen in den Flur. In einer Ecke schnarchte friedlich wie ein gigantisches Walroß der Baron. »Wer da?« rief Uno, der auf einer Bank mit dem Wurfspieß auf den Knien schlummerte. »Still!« befahl Rumata flüsternd. »Marsch in die Küche. Einen Kübel Wasser, Essig und neue Kleider, marsch!«

Lange, heftig und genüßlich übergoß er sich mit Wasser, rieb sich mit Essig ab und befreite sich so vom Schmutz der Nacht. Uno hüllte sich ganz gegen seine Gewohnheit in Schweigen und ging seinem Herrn zur Hand. Und erst dann, als er ihm seine lächerliche fliederfarbene Hose mit den Fußspangen zuknöpfen half, meldete er mürrisch:

»In der Nacht, als Ihr hinausliefet, kam Kyra herunter und fragte, ob der Herr hier war oder nicht, meinte dann aber, daß ihr wohl geträumt habe. Ich sagte, daß Ihr von Eurer Nachtwache, die Ihr gestern abend angetreten habt, noch nicht zurück seid …« Rumata seufzte tief und wandte sich ab. Aber dadurch wurde nichts besser. Nur schlechter.

» … Und ich hab die ganze Nacht mit dem Wurfspieß in der Hand beim Baron gesessen: Ich hatte Angst, er würde im Rausch nach oben kriechen.«

»Danke, mein Kleiner, danke«, brachte Rumata mit Mühe heraus. Er zog Schuhe an, ging in den Vorraum und blieb kurz vor dem dunklen Metallspiegel stehen. Das Kasparamid wirkte zuverlässig. Der Spiegel zeigte einen eleganten edlen Don mit einem nach der anstrengenden Nachtwache ein wenig müden Gesicht. Aber in höchstem Maße wohlanständig. Die vom Goldreif eingefaßten feuchten Haare fielen schön und weich zu beiden Seiten seines Gesichts herab. Rumata richtete mit einer automatischen Handbewegung das Objektiv an der Stirn. Hübsche Szenen beobachten sie heut auf der Erde, dachte er düster.

Inzwischen graute der Morgen. Durch staubige Fenster blickte die Sonne. Die Fensterläden klapperten. Auf der Straße hörte man verschlafene Stimmen. »Gut geschlafen, Bruder Kiris?« – »Dank sei dem Herrn, Bruder Tika, gut. Die Nacht ist vorbei, Gott sei Dank.« – »Aber bei uns hat jemand gegen die Fenster geschlagen. Der edle Don Rumata, hört man, ist in der Nacht ausgegangen.« – »Man sagt, er hat einen Gast.« – »Da ist er also ausgewesen heute? Beim jungen Prinzen, denk ich, ist er gewesen und hat dabei nicht bemerkt, wie sie die halbe Stadt eingeäschert haben.« – »Was soll ich sagen, Bruder Tika. Danken wir Gott, daß wir in der Nachbarschaft einen solchen Don haben. Einmal im Jahr hält er Wache, und das ist schon viel …«

Rumata stieg die Treppe hinauf, klopfte und trat ins Herrenzimmer. Kyra saß im Lehnstuhl wie gestern. Sie hob die Augen und blickte ihm unruhig und erschrocken ins Gesicht. »Guten Morgen, meine Kleine«, sagte er, ging zu ihr hin, küßte ihr die Hände und setzte sich in den Lehnstuhl ihr gegenüber. Sie schaute ihn eine Zeitlang forschend an und fragte dann: »Bist du müde?«

»Ja, ein wenig. Und ich muß noch einmal fort heute.«

»Soll ich dir etwas vorbereiten?«

»Nein, danke. Uno macht das schon. Ach ja, vielleicht den Kragen bügeln …«

Rumata fühlte, wie zwischen ihnen eine Lügenwand emporwuchs. Zuerst ganz dünn, dann immer dicker und fester. Fürs ganze Leben! dachte Rumata bitter. Er saß da und bedeckte seine Augen mit den Händen, während sie ihm mit verschiedenen Parfüms vorsichtig den kräftigen Hals, die Wangen, die Stirn und die Haare einrieb. Dann sagte sie:

»Du fragst nicht einmal, wie ich geschlafen habe.«

»Nun wie denn, meine Kleine?«

»Ich hab geträumt. Einen schrecklichen, ganz schrecklichen Traum. Verstehst du?«

Die Mauer wurde dick wie ein Festungswall.

»An einem neuen Ort ist das immer so«, sagte Rumata heuchlerisch. »Und wahrscheinlich hat der Baron Radau geschlagen.«

»Soll ich das Frühstück bestellen?« fragte sie.

»Bestelle es!«

»Und welchen Wein hast du gern in der Früh?« Rumata öffnete die Augen.

»Laß Wasser bringen«, sagte er. »Am Morgen trinke ich nicht.« Sie ging hinaus, und er hörte, wie sie mit ruhiger, klangvoller Stimme zu Uno sprach. Dann kehrte sie zurück, setzte sich auf die Lehne seines Stuhls und begann ihm ihren Traum zu erzählen. Rumata hörte zu, zupfte sich nervös die Augenbrauen und fühlte, wie die Wand mit jeder Minute dicker und unerschütterlicher wurde und wie sie ihn für immer von dem einzigen Menschen trennte, der ihm lieb und wert war in dieser abscheulichen Welt. Und dann warf er sich plötzlich mit seiner ganzen Kraft gegen diese Wand. »Kyra«, sagte er. »Es war kein Traum!« Und es geschah nichts Außergewöhnliches.

»Mein Armer«, sagte Kyra. »Warte, ich bring dir gleich Salzgurken …«

5

Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Hof der irukanischen Könige einer von jenen, die besonders auf Bildung achteten. Man hielt sich bei Hof Gelehrte, in der Mehrzahl natürlich Scharlatane, aber auch Männer wie Bagir Kissenski, den Entdecker der Krümmung des Planeten; oder den Leibquacksalber Tata, der die geniale Behauptung aufstellte, daß die Epidemien durch kleine, dem Auge unsichtbare Würmer zustande kämen, die von Wind und Wasser verbreitet würden; oder den Alchimisten Synda, der wie alle Alchimisten ein Mittel suchte, um aus Dreck Gold zu machen, und der dabei ganz zufällig das Gesetz der Erhaltung der Materie fand. Auch Dichter gab es am arkanarischen Hof. In der Mehrzahl waren es freilich bloße Lobhudler und Parasiten, aber es gab auch Pepin den Großen, den Autor der historischen Tragödie Der Feldzug gegen den Norden; dann war da Zuren der Gerechte, der über fünfhundert Balladen und Sonette verfaßte, die das Volk dann vertonte; und schließlich der Dichter Gur, der den ersten weltlichen Roman in der Geschichte des Reichs schrieb, eine traurige Romanze von einem Prinzen, der sich in eine schöne Barbarin verliebte. Es gab am Hof auch großartige Artisten, Tänzer und Sänger. Bemerkenswerte Maler bedeckten die Wände mit unvergänglichen Fresken, berühmte Bildhauer schmückten mit ihren Schöpfungen die Parkanlagen des Schlosses. Und trotzdem kann man nicht sagen, die arkanarischen Könige seien Förderer der Gelehrsamkeit oder Kunstkenner gewesen. Das alles war bloße Zierde, wie die Zeremonie des morgendlichen Levers oder die prunkvollen Gardeoffiziere am Schloßportal.

Die Duldsamkeit der Monarchen ging manchmal so weit, daß einige Gelehrte und Dichter zu beachtlichen Rädchen im Gefüge des Staatsapparates wurden. So nahm zum Beispiel noch vor fünfzig Jahren der hochgelehrte Alchimist Botsa den nunmehr wegen Entbehrlichkeit aufgehobenen Posten eines Ministers für Bergbau ein, gründete einige neue Gruben und machte Arkanar berühmt für hochwertige Legierungen, deren Produktionsgeheimnis allerdings nach seinem Tod verlorenging. Der Dichter Pepin leitete bis vor kurzem das staatliche Bildungsprogramm, bis dann das Ministerium für Geschichte und Sprachkunde, das unter seiner Führung stand, als schädlich und den Verstand zersetzend erkannt wurde.

Es kam immerhin auch früher vor, daß man einen Wissenschaftler oder Künstler, der der Favoritin des Königs, einer stumpfen und süßlichen Person, nicht zu Gesicht stand, ins Ausland verkaufte oder mit Arsen vergiftete, aber erst Don Reba nahm sich der Sache voll und ganz an. Während seiner Zeit als allmächtiger Sicherheitsminister zum Schutze der Krone veranstaltete er in der Kulturwelt Arkanars derartige Pogrome, daß er damit sogar schon die Unzufriedenheit einiger edler Magnaten hervorrief, die erklärten, am Hof würde es immer langweiliger, und auf den Bällen höre man nichts mehr außer dummem Klatsch.

Bagir Kissenski, des an Staatsverbrechen grenzenden Wahnsinns angeklagt, wurde ins Verlies geworfen, und nur den äußersten Anstrengungen Rumatas gelang es, ihn herauszuholen und in die Hauptstadt zu überstellen. Sein Observatorium wurde niedergebrannt, und die seiner Schüler, die unbehelligt geblieben waren, flohen in alle Windrichtungen. Der Leibarzt Tata erwies sich plötzlich zusammen mit fünf anderen Quacksalbern als Giftmischer, der den irukanischen Herzog gegen die Person des Königs aufwiegle; er gestand in der Folterkammer alles und wurde auf dem Königlichen Platz öffentlich erhängt. Bei dem Versuch, ihn zu retten, verteilte Rumata dreißig Pud Gold, verlor vier seiner Agenten (edle Dons, die nicht wußten, was sie taten) und hätte um ein Haar selber draufgezahlt, als er während seines Versuchs, den Verurteilten zu entführen, verwundet wurde.

Das war seine erste große Niederlage gewesen. Und da hatte er schließlich verstanden, daß Don Reba kein reiner Zufall war. Als er eine Woche später erfuhr, daß man den Alchimisten Synda vor Gericht stellen wollte, weil er angeblich den Stein der Weisen dem Staatsschatz vorenthalte, nahm Rumata, dem die Wut wegen seiner letzten Niederlage noch im Bauch kochte, die Sache selbst in die Hand. Er legte um das Haus des Alchimisten einen Hinterhalt, entwaffnete mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht selber die Sturmowiki, die den Alchimisten abführen wollten, warf sie gefesselt in den Keller und führte noch in derselben Nacht den völlig verständnislosen Synda über die Grenze nach Soan, wo er nach leichtem Schulterzucken seine Suche nach dem Stein der Weisen unter der Aufsicht Don Kondors fortsetzte. Der Dichter Pepin nahm plötzlich die Kutte und zog sich in ein entlegenes Kloster zurück. Zuren der Gerechte wurde erst kürzlich entlarvt: Man überführte ihn der verbrecherischen Zweideutigkeit seiner Äußerungen. Außerdem warf man ihm vor, daß er dem Geschmack der untersten Volksschichten entgegengekommen sei. Er wurde seiner Ehre und seines Vermögens für verlustig erklärt, versuchte um sein Recht zu streiten, rezitierte in verrufenen Kneipen nun schon ganz offenkundig subversive Balladen und wurde dabei zweimal von patriotisch gesinnten Personen fast zu Tode geprügelt. Erst dann ließ er sich von seinem Freund und Gönner Don Rumata überreden, in die Hauptstadt des Reiches zu flüchten. Rumata würde den Anblick des Abreisenden nie vergessen können, wie er, zugleich blaß und blau vor Trunkenheit, sich mit seinen dünnen Armen an den Planken des abfahrenden Schiffes festklammerte und mit klingender, erstaunlich junger Stimme sein Abschiedssonett hinausbrüllte: Wie Blattgewelk drückt es die Seele …