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Auf dem Platz vor dem Eingang zur Kanzlei stand im Schatten des quadratischen Turms der Fröhlichkeit eine Abteilung von Infanteriemönchen, die mit furchteinflößenden knotigen Knüppeln bewaffnet waren. Die Toten hatte man weggeschafft. Der Morgenwind jagte gelbe Staubsäulen über den Platz. Unter dem breiten konischen Dach des Turms schrien und stritten sich wie immer die Krähen – dort, an den hervorragenden Balken, erhängte man die Menschen mit dem Kopf nach unten. Der Turm war vor zweihundert Jahren von den Vorfahren des Königs erbaut worden, und zwar ausschließlich für Verteidigungszwecke im Kriegsfall. Er stand auf einem festen dreistöckigen Fundament, in dem früher Lebensmittelvorräte für den Fall einer längerdauernden Belagerung aufbewahrt wurden. Später verwandelte man den Turm in ein Gefängnis. Aber nach einem Erdbeben brachen alle Decken im Innern zusammen, und man mußte das Gefängnis in die Keller verlegen. Vor einiger Zeit beschwerte sich eine arkanarische Königin bei ihrem Gebieter, daß die Schreie der Gefolterten ihre Unterhaltung störten. Daraufhin verfügte der königliche Gemahl, daß im Turm von frühmorgens bis spätabends ein Militärorchester spiele. Damals erhielt der Turm seinen jetzigen Namen. Seit langem war der Turm nichts anders als ein leerer Steinkadaver, seit langem schon waren die Folterkammern in die neueröffneten, tiefsten Kellerlöcher verlegt, seit langem spielte dort kein Orchester mehr, aber die Bürger nannten ihn noch immer den Turm der Fröhlichkeit. Gewöhnlich war es rund um den Turm menschenleer. Aber heute herrschte hier große Bewegung. Zu ihm hin führte, stieß und zog man am Boden die Sturmowiki in zerfetzten grauen Uniformen, lausige Landstreicher in Lumpen, halbentkleidete, vor Schreck starre Bürger und hysterisch schreiende Mädchen. Die heruntergekommenen Söldner der Nachtarmee, die mürrische Blicke um sich warfen, wurden in ganzen Herden herangetrieben. Und aus Geheimausgängen zog man mit Widerhaken die Leichen heraus, warf sie auf Karren und fuhr sie aus der Stadt. Die letzten in der langen Warteschlange von Höflingen und verdienten Bürgern, die sich noch außerhalb der Türen zur Kanzlei befanden, verfolgten mit Schrecken und Verwirrung diesen schauerlichen Betrieb. In die Kanzlei wurden alle vorgelassen, manche aber holte man sogar im Konvoi. Rumata drängte sich bis ins Innere durch. Die Luft war dort so dumpf und stickig wie an der Müllgrube. Hinter einem mächtigen, mit Papieren vollgehäuften Tisch saß ein Beamter mit einem gelblichgrauen Gesicht. Hinter seinem abstehenden rechten Ohr steckte eine riesige Gänsefeder. Der Bittsteller, der gerade an der Reihe war, der edle Don Keu, zuckte hochmütig mit dem Schnurrbart, als er seinen Namen nannte.

»Den Hut abnehmen«, sagte der Beamte mit farbloser Stimme, ohne seinen Blick von den Papieren zu heben.

»Das Geschlecht der Keu hat das Privileg, selbst in Gegenwart des Königs den Hut aufzubehalten«, erklärte Don Keu stolz. »Niemand hat ein Privileg vor dem Heiligen Orden«, sagte mit derselben farblosen Stimme der Beamte. Don Keu begann zu fauchen, wurde knallrot, nahm aber doch den Hut ab. Der Beamte fuhr mit einem langen gelben Finger über das Papier. »Don Keu … Don Keu …«, murmelte er, »Don Keu … Königstraße Nummer zwölf?«

»Ja«, sagte Don Keu mit seiner fetten, gereizten Stimme. »Nummer vierhundertfünfundachtzig, Bruder Tibak.« Bruder Tibak, himbeerrot vor Fettsucht und Atemnot, saß am Nachbartisch. Er stöberte in den Papieren, wischte sich den Schweiß von der Stirn, erhob sich und verlas mit monotoner Stimme:

»Nummer vierhundertfünfundachtzig, Don Keu, Königstraße zwölf, wegen Schmähung des Namens seiner Herrlichkeit des Bischofs von Arkanar, Don Reba, vor zwei Jahren beim Hofball, wird verfügt: Drei Dutzend Schläge auf die entblößten Weichteile und Küssen des Schuhs seiner Herrlichkeit.«

Bruder Tibak nahm wieder Platz. »Gehen Sie in diesen Korridor«, sagte der Beamte mit der farblosen Stimme, »die Schläge rechts, der Schuh links. Der nächste …«

Zu Rumatas großem Erstaunen versuchte Don Keu gar nicht zu protestieren. Offenbar hatte er schon so einiges gesehen, während er in dieser Schlange gewartet hatte. Er krächzte nur einmal auf, strich sich mit Würde seinen Schnurrbart zurück und entfernte sich in den Korridor.

Der nächste war der vor Fett zitternde gigantische Don Pifa. Er trat bereits ohne Hut vor den Tisch. »Don Pifa … Don Pifa …«, quakte der Beamte und fuhr mit dem Finger über das Papier. »Milchkrugstraße Nummer zwei?« Don Pifa gab einen gurgelnden Laut von sich. »Nummer fünfhundertvier, Bruder Tibak.« Bruder Tibak fuhr sich wieder über die Glatze und stand auf. »Nummer fünfhundertvier, Don Pifa, Milchkrugstraße zwei, durch nichts aufgefallen vor seiner Herrlichkeit – folglich rein!«

»Don Pifa«, sagte der Beamte, »empfangen Sie das Zeichen der Reinigung.« Er bückte sich, zog aus einer Kiste neben seinem Stuhl einen eisernen Armreif und gab ihn dem edlen Pifa. »Zu tragen am linken Handgelenk, vorzuweisen auf die erste Aufforderung der Kämpfer des Ordens. Der nächste …«

Don Pifa gab noch einmal einen gurgelnden Laut von sich und beäugte im Weggehen seinen Armreif. Der Beamte mit der farblosen Stimme quakte schon den nächsten Namen. Rumata betrachtete die Schlange der Wartenden. Es waren viele bekannte Gesichter dabei. Einige waren reich bekleidet wie immer, andere waren sichtbar verarmt, aber alle waren gründlich mit Dreck bespritzt. Irgendwo in der Mitte der Schlange erklärte Don Sera nun schon zum drittenmal in den letzten fünf Minuten mit lauter Stimme, damit es alle hörten: »Ich sehe nicht ein, warum nicht auch ein edler Don ein paar Schläge empfangen soll, im Namen seiner Herrlichkeit!«

Rumata wartete ab, bis sie den nächsten in den Korridor schickten (es war ein bekannter Fischhändler, sie verfügten ihm fünf Schläge ohne Schuhküssen wegen unerlaubter Gedankengänge), rempelte sich bis zum Tisch vor und legte ohne viele Umstände seine Hand auf die Papiere der Beamten.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Ich brauche einen Erlaß zur Befreiung Doktor Budachs. Ich bin Don Rumata.« Der Beamte hob nicht den Kopf.

»Don Rumata … Don Rumata …«, murmelte er, schob Rumatas Hand beiseite und fuhr mit dem Finger über das Papier. »Was tust du da, du altes Tintenfaß?« sagte Rumata. »Ich brauche einen Befreiungserlaß!«

»Don Rumata … Don Rumata …«, diesen Automaten zu stoppen war wohl unmöglich. »Spenglerstraße acht. Nummer sechzehn, Bruder Tibak.« Rumata spürte, wie hinter seinem Rücken alle den Atem anhielten. Aber auch ihm selbst, wenn er ehrlich sein wollte, war nicht ganz geheuer. Der himbeerfarbene, schweißüberströmte Bruder Tibak erhob sich:

»Nummer sechzehn, Don Rumata, Spenglerstraße acht, für spezielle Verdienste um den Heiligen Orden des besonderen Dankes Seiner Herrlichkeit würdig. Seine Herrlichkeit geruhen also, ihm einen Erlaß zur Befreiung des Doktor Budach auszustellen, mit welchem besagten Mann er nach eigenem Ermessen verfahren möge, siehe Blatt 6/17/11.«

Der Beamte zog dieses Blatt sogleich aus dem Papierstoß und übergab es Rumata.

»Durch die gelbe Tür, in den zweiten Stock, Zimmer sechs, geradeaus durch den Korridor, zuerst rechts und dann links«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Der nächste …« Rumata überflog das Blatt. Es war nicht der Erlaß zur Befreiung Budachs. Es war bloß ein Dokument zur Erlangung eines Einlaßpapiers in die fünfte Spezialabteilung der Kanzlei, wo er eine Empfehlung für das Geheimsekretariat abholen sollte. »Was hast du mir gegeben, du Holzkopf?« fragte Rumata. »Wo ist der Erlaß?!«

»Durch die gelbe Tür, in den zweiten Stock, Zimmer sechs, geradeaus durch den Korridor, zuerst rechts und dann links«, wiederholte der Beamte.

»Ich frage dich, wo ist der Erlaß!« schrie Rumata. »Keine Ahnung … Keine Ahnung … Der nächste …!« Über Rumatas Ohren ertönte ein leises Röcheln, und etwas Weiches und Warmes legte sich ihm an den Rücken. Er schüttelte das Ding ab. Zum Tisch zwängte sich noch einmal Don Pifa. »Er paßt nicht«, sagte er weinerlich. Der Beamte hob seine trüben Augen zu ihm empor. »Name? Rang?« fragte er.

»Er paßt nicht«, sagte Don Pifa noch einmal, und zog und schob den Armreif, in den er mit Müh und Not drei seiner dicken Finger stecken konnte, hin und her.

»Er paßt nicht … er paßt nicht …«, murmelte der eine der beiden Beamten und faßte plötzlich nach einem dicken Buch, das zu seiner Rechten auf dem Tisch lag. Das Buch sah unheilverkündend aus in seinem speckigen, schwarzen Umschlag. Einige Sekunden lang blickte Don Pifa verwirrt auf das Buch, sprang dann aber plötzlich einen Schritt zurück und rollte, ohne ein Wort zu sagen, dem Ausgang zu. In der Schlange maulten sie: »Nicht aufhalten, weitermachen!« Rumata trat ebenfalls vom Tisch weg. Das ist doch eine Schweinerei, dachte er. Na, ich werde euch schon … Der Beamte machte sich daran, laut in die Menge zu keifen: »Wenn das besagte Zeichen aber nicht auf das linke Handgelenk paßt, oder wenn der Gereinigte keine linke Hand besitzt …« Rumata ging um den Tisch herum, steckte beide Hände in die Kiste mit den Armreifen, nahm so viele, wie er nur konnte, und ging seines Weges. »He, he«, schrie ihm der Beamte völlig ausdruckslos nach, »der Beweggrund …«

»Im Namen des Herrn«, sagte Rumata bedeutungsvoll über die Schulter. Der Beamte und Bruder Tibak erhoben sich eilig von ihren Sitzen und antworteten etwas verwirrt: »In seinem Namen!« Mit Entzücken und neiderfüllten Blicken schauten die Menschen in der Warteschlange Rumata nach.

Nach dem Besuch in der Kanzlei lenkte Rumata seine Schritte zum Turm der Fröhlichkeit, wobei er unterwegs mit den Armreifen an der linken Hand klirrte. Es stellte sich heraus, daß er neun Reife erwischt hatte, am linken Arm fanden aber nur fünf Platz. Die übrigen vier steckte er sich auf den rechten. So also wollte er mich erledigen, der Bischof von Arkanar, dachte er. Da wird nichts draus. Die Armreife schellten bei jedem Schritt, und in der Hand hielt Rumata ein achtunggebietendes Papier – Blatt 6/17/11 –, geschmückt mit verschiedenfarbigen Stempeln. Die zu Fuß und zu Pferd entgegenkommenden Mönche gingen ihm schleunigst aus dem Weg. Aus der Menge tauchte hie und da in respektvoller Entfernung sein Leibwächter und Spion auf. Als Rumata zum Tor des Turms kam, rasselte er unfreundlich mit seinen übereinandergeratenen Schwertscheiden, bedachte den Wächter, der eben neugierig seinen Kopf herausstecken wollte, mit einem drohenden Knurren, ging durch den Hof und stieg die schlüpfrigen, ausgetretenen Stufen hinab in das durch primitive Ölfunzeln erleuchtete Halbdunkel. Hier war der Beginn des Allerheiligsten des ehemaligen Sicherheitsministeriums, das königliche Gefängnis und die Folterkammern. In den gewölbten Gängen steckte alle zehn Schritt eine übelriechende Fackel in einem rostigen Halter. Unter jeder Fackel war eine höhlenähnliche Nische, in der man eine kleine schwarze Tür mit einem vergitterten Fenster sah. Das waren die Eingänge zu den Kerkerzellen, die von außen mit schweren Riegeln verschlossen waren. Auf den Gängen wimmelte es von Menschen. Sie rempelten einander an, liefen hin und her, schrien durcheinander und kommandierten einer den andern … Die Riegel krachten, Türen flogen auf und zu, irgend jemand wurde geschlagen und brüllte auf, irgend jemand wurde davongeschleppt und versuchte sich festzuhalten, irgend jemanden stießen sie in eine Zelle, die ohnehin schon vollgestopft war mit Menschen, und irgend jemanden versuchten sie aus einer Zelle herauszuziehen, hatten aber wenig Erfolg, weil er sich an seinem Nachbarn festkrallte und verzweifelt schrie: »Nicht mich, nicht mich!« Die Gesichter der entgegenkommenden Mönche waren eifrig und verkniffen. Jeder hatte es eilig, jeder verrichtete Dinge von großer Bedeutung für den Staat. In der Absicht herauszubekommen, was da überhaupt los sei, durchstreifte Rumata ohne besondere Eile eine Anzahl von Gängen und geriet immer tiefer und tiefer hinab. In den unteren Stockwerken war es etwas ruhiger. Den Gesprächen nach zu schließen, wurden hier die Absolventen der Patriotischen Schule examiniert. Nur mit einem Lederschurz bekleidet standen die Halbwüchsigen an den Türen der Folterkammern, blätterten speckige alte Handbücher durch und gingen von Zeit zu Zeit zu einem großen Bottich mit einem angeketteten Blechnapf, um Wasser zu trinken. Aus den Kammern drangen grauenvolle Schreie, das Geräusch von Schlägen, und es roch deutlich nach angesengtem Fleisch. Und die Reden, diese Reden! »Bei der Knochenbrechmaschine, da ist eine Schraube oben, und die hat durchgedreht. Aber ist das meine Schuld? Er hat mich verprügeln lassen. Sauschädel, sagt er, du Affe du, sagt er, hol dir fünfe auf deinen nackten Hintern. Dann komm wieder …«