Sie machten es sich bequem, so gut es ging. Mavra zog ihre Gerätschaften aus dem Fach in ihrem Stiefel und überprüfte sie. Ohne Batterie waren sie allerdings nicht viel wert, und wie erwartet, funktionierte sie nicht. Sie gab es auf.
Die Dunkelheit sank herab wie eine schwarze Decke, und ihre Augen schalteten auf Infrarot um.
Nikki schlief fast augenblicklich ein, aber Mavra hörte, wie Renard sich immer wieder herumwarf und schließlich aufsetzte.
»Was ist denn?«flüsterte sie.»Zuviel für einen Tag?«
Er schlich zu ihr.
»Das ist es nicht, aber ich habe nachgedacht. Es fängt langsam an.«
»Was fängt an?«
»Der Schwamm«, sagte er tonlos.»Ich habe starke Schmerzen. Das ist wie eine sehnsüchtige Qual, die den ganzen Körper erfaßt.«
»Die ganze Zeit?«fragte sie besorgt.
»Nein, in Wellen. Jetzt ist es besonders schlimm. Ich weiß nicht, ob Nikki das schon spürt, aber wenn nicht, dann kommt es.«Er zögerte.»Mavra, wir sterben«, sagte er langsam.
»Was geschieht da, Renard?«fragte sie nach einer Pause stockend.»Und wie lange dauert es?«
»Die Gehirnzellen sind als erste betroffen«, erwiderte er seufzend.»Jedesmal wenn einer der kleinen Anfälle eintritt und sie werden zunehmend schlimmer —, verliert man Zellen in seinem Körper und Zellen im Gehirn. Es ist eher ein langsamer Stillstand als ein Tod. Ich habe es bei anderen erlebt. Man behält sein Gedächtnis, verliert aber immer mehr die Fähigkeit, es zu gebrauchen. Gedankenabläufe und Urteile fallen immer schwerer. Das kaum erträgliche Heute wird zum unerträglichen Morgen. Die Dauer ist bei jedem unterschiedlich, aber grob gesprochen verliert man am Tag zehn Prozent seiner Fähigkeiten, und das läßt sich nicht mehr gutmachen, selbst wenn man danach mehr Schwamm bekommt — wofür nichts spricht. Ich war immer recht begabt — früher bin ich Lehrer gewesen, wissen Sie —, aber ich merke schon, daß sich etwas verändert. Ich bin zehn Prozent dümmer als gestern, doch das bedeutet nicht viel, wenn man vergleichsweise hoch anfängt. Aber wenn man einen Intelligenzquotienten von 150 hat, kann man sich die Dauer ausrechnen.«
Mavra tat es. Wenn Renard gestern einen IQ von 150 gehabt hatte, belief sich dieser heute noch auf 135. Nun gut, das fiel nicht weiter ins Gewicht. Aber morgen würden es 122 sein, übermorgen 110, was ungefähr dem Durchschnitt entsprach. Dann fing es aber erst an. Aus 110 würden 99 werden, dann 89. Das ging langsamer — wieviel, vier Tage? Dann 80 in fünf, 72 in sechs — ein Schwachsinniger. 65 nach einer Woche, geistig und motorisch einem Dreijährigen entsprechend. Und dann vielleicht ein Automat oder eine Art tierisches Wesen.
»Nikki?«fragte sie ihn.
»Bei ihr wird es schneller gehen, denke ich. Vielleicht ein, zwei Tage weniger bis zum kritischen Punkt.«
Sie griff nach seinem Arm. Bevor er reagieren konnte, stach sie mit ihren Fingernägeln zu, und die Hypnoseflüssigkeit drang unter seine Haut. Er zuckte überrascht zusammen, dann schien er zu erschlaffen.
»Renard, hör mir zu!«befahl sie.
»Ja, Mavra«, antwortete er mit der Stimme eines kleinen Kindes.
»Du wirst mir voll vertrauen. Du wirst ganz an mich und meine Fähigkeiten glauben und tun, was ich sage. Du wirst dich stark und gut und gesund fühlen, keine Schmerzen, keine Sehnsucht nach dem Schwamm. Verstehst du mich?«
»Ja, Mavra«, erwiderte er dumpf.
»Außerdem wirst du nicht an den Schwamm denken. Du wirst nicht glauben, daß du stirbst oder langsam zugrunde gehst. Wenn du morgens wach wirst, wirst du nicht das Gefühl haben, anders zu sein als zuvor, und auch an Nikki wirst du keine Veränderung bemerken. Hast du verstanden?«
»Ja, Mavra.«
»Gut. Jetzt gehst du hinüber und legst dich hin, schläfst gut und fest und traumlos und fühlst dich, wenn du wach wirst, sehr gut, ohne Erinnerung an dieses Gespräch. Geh jetzt!«
Er löste sich von ihr, ging zu seinem Platz, legte sich hin und schlief sofort ein.
Die Suggestion würde natürlich nicht halten, das wußte sie. Sie würde sie in Abständen erneuern und versuchen müssen, dasselbe bei Nikki zu tun. Aber das würde nur ihr eigenes Problem mildern, nicht das der beiden anderen. Sie würden weiterhin dem Gift erliegen, bis Mavras Einfluß nichts mehr zu bewirken vermochte.
Sechs Tage bis dahin.
Irgendwo auf dieser Welt mußte es jemanden geben, der ihnen helfen konnte, helfen würde. Daran mußte sie glauben.
Sechs Tage.
Südpolarzone, Schacht-Welt
Das Büro sah aus wie das jedes beliebigen Geschäftsmannes. An den Wänden Landkarten, Diagramme, Tabellen, im Zimmer sonderbare Möbel, und ein massiver, U-förmiger Schreibtisch mit vielen versteckten Steuerelementen, Kommunikationsanlagen, Schreibgeräten. In der linken oberen Schublade lag sogar eine Pistole von seltsamer Bauart.
Aber das Wesen, das hinter diesem riesigen Schreibtisch saß und die dort ausgebreiteten Landkarten studierte, war in keiner Beziehung ein menschliches Wesen, wenn auch geschäftlich tätig.
Es hatte einen schokoladenbraunen menschlichen Oberkörper, der unglaublich breit und gerippt war, so daß die Brustmuskeln quadratische Platten zu bilden schienen. Ein ovaler Kopf war ebenso braun und unbehaart, bis auf einen mächtigen weißen Schnauzbart unter einer breiten, platten Nase. Sechs Arme, je drei übereinander, waren paarweise in gleichen Abständen an dem Oberkörper angebracht und, bis auf das oberste Paar, mit Kugelgelenken versehen, wie bei einer Krabbe. Unter diesem seltsamen Rumpf verschmolz alles in eine enorme, braungelb gestreifte Reihenfolge von Schuppen, die zu einer riesigen eingerollten Schlangenunterhälfte führten. Gestreckt dehnte sich der schlangenartige Leib über mehr als fünf Meter.
Das Wesen gebrauchte die untersten Arme, um auszubreiten, was sich als eine Karte der südlichen und östlichen Hälfte der Schacht-Welt erwies. Sie sah aus wie eine eigenartige Anordnung völlig gleichartiger Sechsecke, schwarz gedruckt, mit einem Überdruck in vielerlei Farben, um die Topographie und Wasserflächen anzuzeigen. Während die unteren Arme die Karte ausbreiteten, hakte der linke obere Arm verschiedene Sechsecke mit einem breiten Bleistift ab, während die rechte obere Hand mit einem anderen Bleistift Notizen auf einen Block machte.
Die linke mittlere Hand drückte die Taste eines Sprechgeräts.
»Ja, Sir?«fragte eine Frauenstimme höflich.
»Ich brauche Nahaufnahmen von Hex Zwölf, Sechsundzwanzig, Vierundvierzig, Achtundsechzig und Zweihundertneunundvierzig«, sagte er mit tiefer, voller Baßstimme zur Sekretärin.»Und bitten Sie freundlicherweise den Botschafter von Czillia, mich so schnell wie möglich aufzusuchen.«
Er schaltete ab, ohne eine Bestätigung abzuwarten.
Kurz danach ertönte ein Summer. Er drückte auf die Taste einer anderen Sprechanlage.
»Serge Ortega«, sagte er knapp.
»Ortega? Gol Miter, Shamozan«, antwortete eine dünne, scharfe Stimme, die, wie Ortega wußte, aus einem Dolmetschergerät kam.
»Ja, Gol? Was gibt es?«Er warf kurz einen Blick auf die Karte. Ah, ja, die Taranteln mit drei Meter Durchmesser. Das Gedächtnis läßt als erstes nach, dachte er mürrisch.
»Wir haben eine Flugbahnberechnung des neuen Satelliten. Er ist eindeutig künstlich; einige Aufnahmen der Teleskope in der Nord-Zone sind phantastisch. Wir haben Spektroanalysen durchgeführt. Die Atmosphäre ist ein recht übliches Südhalbkugel-Gemisch, viel Stickstoff und Sauerstoff, viel Wasserdampf. Die Bilder und unser Material stimmen weithin überein. Das Ding ist in zwei Hälften geteilt, mit einer Art physischer Glocke zwei, drei Kilometer über der Oberfläche. Deshalb können wir nicht viele Einzelheiten der Oberfläche erkennen. Aber überall Grün wie in einem Garten, und ganz verschwommene Dinge, die Gebäude sein könnten. So, als hätte dort jemand seine eigene kleine Privat-Stadtwelt.«