Das eine Wesen, das sich in der Konföderationssprache ausdrücken konnte, kehrte zurück.
»Mehensch, wie viele von euch sind da unten?«
»Drei!«rief Mavra hinauf.»Aber zwei sind im Betäubungsschlaf!«
Eine Gestalt, offenbar eine sehr kleine, beugte sich tiefer und blickte durch das Gitter.
»Ah, ja, jetzt sehe ich es. Wir müssen das Gitter wegziehen, also geh zu ihnen hinüber.«
Man hörte ein Knirschen und Quietschen. Offenbar hatte man am Gitter Seile befestigt. Ein klingender Ruf, und sie zerrten alle gemeinsam daran. Das Gitter schwebte in die Höhe und kippte nach außen. Die Gestalt kehrte zurück, schien dann herabzusinken und landete im Wagen.
Es war eine winzige Frau, eigentlich ein Mädchen, dem Anschein nach nicht älter als neun oder zehn Jahre, ungefähr einen Meter groß, mit feingemeißelten Zügen, wohlproportioniert. Mavra begriff, daß sie kein Kind vor sich hatte, sondern eine Erwachsene. Sie war sehr schmal und leicht, wog ganz gewiß nicht mehr als zwölf bis fünfzehn Kilogramm, wenn überhaupt soviel. Sie besaß zwei winzige Brüste, kaum entwickelt, aber in ihrer Art genau richtig. Das Gesicht war das Abbild mädchenhafter Unschuld, jugendlich und engelhaft.
Dann schien das Mädchen plötzlich zu leuchten. Das Licht strahlte von ihrem ganzen Körper aus, ein goldener Schein, der unfaßbar und unerklärbar war.
In der Helligkeit konnte man das Wesen nun genau erkennen. Die Haut war von rötlicher Farbe, ein blasser Widerschein des Leuchtens; die Haare waren zu einer Pagenfrisur geformt, von blauschwarzer Farbe. Zwei winzige Ohren, sehr spitz, ragten am Kopf empor, und die Augen schienen wie die einer Katze das Licht widerzuspiegeln. An ihrem Rücken wuchsen paarweise vier für den Körper verhältnismäßig große und völlig durchsichtige Doppelflügel. Das Wesen lächelte und ging auf Mavra zu, die Hand grüßend erhoben. Beim Gehen hörte man ein leises Scharren. Mavra sah, daß es von etwas sehr Starrem herrührte, das von ihrem Rückgrat bis zum Boden hinabreichte. Der Auswuchs war von viel dunklerem Rot als der Teint des Mädchens und endete in einer gefährlich aussehenden Spitze, die eine Spur am Boden hinterließ.
»'allo, ich bin Vistaru«, sagte das Wesen.
»Mavra Tschang. Der große Mann dort ist Renard, das dicke Mädchen Nikki.«
»Riihnard«, wiederholte das Mädchen.»Nihkih.«
»Sie leiden an einer Drogensucht«, erklärte Mavra.»Man nennt sie Schwamm. Sie brauchen sehr schnell Hilfe.«
Die Miene des Mädchens wurde grimmig. Sie sagte etwas zu sich in ihrer eigenen Sprache.
»Wir müssen sie sehr schnell fortbringen«, bestätigte Vistaru.»Und sie sind so schwer.«
»Ich komme allein hinaus«, sagte Mavra.»Vielleicht kann ich draußen mithelfen.«
Die Frau, die fliegen konnte, nickte, und Mavra kletterte an der Wagenwand hinauf und sprang hinunter auf den Boden.
Der Himmel war klarer geworden, und von den großen Sternkugelhaufen drang Licht herunter.
Sie sah die beiden Zyklopen regungslos am Boden liegen. Sie schienen tot zu sein.
Von ihren Retterinnen schien es eine ganze Anzahl zu geben, fünfzehn oder zwanzig. Sie schwebten lautlos umher, unbeeinflußt von den Gesetzen der Schwerkraft. Ihre Flügel summten leise, wenn sie ganz in der Nähe flogen, sonst waren sie lautlos. Einige nutzten jetzt ihre innere Leuchtkraft und erwiesen sich als in allen Regenbogenfarben schillernd, Rot und Orange, Grün, Blau, Braun, alles, und manche waren sehr dunkel, andere ganz hell. Abgesehen davon sahen sie alle ganz gleich aus. Einige hatten Packen an die Bäuche geschnallt. Von dort stammten offenbar die Seile her.
Zusammen mit den Wesen, die Lata hießen, wie Vistaru ihr mitteilte, gelang es Mavra, eine Klappe an der Rückseite des Wagens zu öffnen und herunterzukippen, so daß sie die Bewußtlosen herausziehen konnten.
»Können Sie sie wehecken?«fragte Vistaru.
Mavra nickte, und die Lata sahen erstaunt zu, als sie die beiden mit ihren Fingernägeln stach.
»Nikki, kannst du mich hören?«fragte sie.
Das Mädchen nickte mit geschlossenen Augen.
»Du stehst auf und gehst mit mir«, fuhr Mavra fort. Das Mädchen öffnete die Augen, stand unsicher auf und blieb stehen.»Du gehst, wenn ich gehe, bleibst mit mir stehen und setzt dich mit mir hin.«
Dasselbe machte sie mit Renard, während sie befriedigt vermerkte, daß Nikki alle ihre Bewegungen getreu nachvollzog.
Das schien die Lata zu verwundern. Vistaru kam auf sie zu, während die anderen ihre Glockentöne hervorbrachten.
»Wie machen Sie das?«fragte sie.»Sie wollen wissen, ob Sie Stacheln in den Fingern haben?«
»Sozusagen«, sagte Mavra, und sie machten sich auf den Weg.
Es ging ziemlich mühelos. Mavra kam dahinter, daß der Grat der Berge auch die Grenze zwischen dem Zyklopen-Sechseck war, das Teliagin genannt wurde, und dem Hex namens Kromm. Der Unterschied war erstaunlich. Vom Regen war die Luft noch kühl, und der Wind wehte scharf, als sie die Grenze erreichten. Es gab dort keine Markierungen, Wachen oder Aufpasser, aber man wußte, daß es die Grenze war. Man kam sich vor, als trete man durch einen Vorhang.
Die Luft war plötzlich schwül und schwer, so feucht, daß Mavra binnen Minuten schweißbedeckt war. Insektengeräusche, schwach und leise in Teliagin, drängten sich hier auf, als hätte man einen Lautsprecher eingeschaltet. Das Atmen fiel schwer, der Geruch war merkwürdig.
»Keine Sorge«, sagte Vistaru.»Anders, ja, aber nicht gefährlich.«
Das mochte sein, dachte Mavra, aber aus dem getrockneten Schlamm wurde wieder richtiger Schlamm, der Boden wirkte immer feuchter, die Vegetation beinahe dschungelartig. Am Fuß der Berge gab es einen Sumpf, der sich in alle Richtungen zu erstrecken schien. Das Wasser war nicht sehr tief — vielleicht einen halben Meter —, aber dunkel und still und stinkend, und es gab gewiß tiefe Stellen. Überall wucherte Moos.
»Müssen wir weit durch dieses Gelände gehen?«fragte sie die Lata.»Ihr könnt fliegen, aber wir nicht.«
»Nur kurz«, erwiderte das Mädchen.
Sie stapften eine Stunde durch den Schlamm, und das Wasser wurde tatsächlich tiefer, bis es ihr zu den Stiefeln hineinlief. Einmal stolperte sie über eine Ranke unter Wasser und fiel mit dem Gesicht voraus in glücklicherweise seichtes Wasser.
Renard und Nikki, die sich nirgends verfangen hatten, stürzten pflichtgemäß ebenfalls zu Boden, und es kostete einige Anstrengung, sie in die Höhe zu bringen, bevor sie ertranken.
Mavra wusch sich mit dem Wasser Schlick aus Augen, Nase und Mund und säuberte die beiden anderen mit Hilfe der Lata, aber danach sahen sie immer noch schlimmer aus als irgendein Wesen, dem sie auf der Schacht-Welt bisher begegnet waren. Selbst ihr Geschenk von Trelig, der Pferdeschweif, war so mit Schlamm verbacken, daß sie das Gefühl hatte, hinten säße jemand auf ihr.
Endlich verwandelte sich alles — vom schrecklichen Sumpf zu stillem Meer. Vistaru bat sie zu warten, und eine Lata flog zu einer fernen Ansammlung schwimmender Büsche.
Das Meer, wenn es ein Meer war, besaß eine seltsame Schönheit. Der Himmel war trotz der drückenden Schwüle klar, und die Sternenhaufen und Gaswolken spiegelten sich in der dunklen Oberfläche.
Einer der schwimmenden Büsche schien sich zu lösen und kam auf sie zu. Obenauf saß Barissa, eines der Lata-Wesen, bläulich leuchtend.
Der Busch erwies sich als Riesenblume. Er sah aus wie eine gigantische Rose mit geschlossener Knospe, umgeben von einer großen, dicken, grünen Membranplattform.
Barissa lächelte und sagte etwas. Mavra sah Vistaru an.
»Er sagt, der alte Macham ist schläfrig und mürrisch, aber er kennt das Problem und wird Sie und die anderen mitnehmen.«