Sie stand aufrecht, an eine Wand gelehnt. Sie glaubte sich an Händen und Füßen gefesselt, war sich dessen aber nicht sicher.
Sie strengte sich an, etwas zu erkennen, aber das Mittel war zu stark. Der Ort war ein Stall, in dem es nach tierischen Exkrementen und verfaulendem Stroh roch, und an den Wänden hing seltsames Zaumzeug.
Es gelang ihr, für einen Augenblick eines der Tiere zu sehen. Sie sahen aus wie Miniatur-Maultiere. Schwarze Nase, große, kantige Schnauze, mit Ohren, die für den Kopf viel zu groß zu sein schienen, ein sehr langer Hals an einem kleinen Körper, hohe Hinter- und kurze Vorderbeine.
Und traurige, große, braune Augen.
Drei Olbornier kamen herein, zwei in schwarzgoldener Livree, der dritte mit einer Art Krone und einer langen Goldkette, an der ein sechseckiger Anhänger befestigt war. Seine Kleidung war scharlachrot, mit weiten, goldenen Hosen. Er war alt und hatte Spuren von Grau im schwarzen Fell.
»So, Spionin!«sagte er zu Mavra.»Wach, wie? Gut.«Er wandte sich an seine Begleiter.»Kümmert euch. Wir müssen uns beeilen. Ihre Begleiter werden versuchen, sie zu befreien.«
Mavra empfand Erleichterung; die anderen drei waren also entkommen. Und sie war überzeugt davon, daß man sie herausholen würde. Man brauchte sie.
Sie kam sich vor wie eine Marionette mit Drähten im Körper, so daß man diesen in jede gewünschte Stellung bringen konnte. Man setzte sie auf eines der kleinen Maultiere, in einen einfachen Sattel. Der große Mann führte das Tier hinten hinaus in einen dunklen Hain.
Vistaru, die darüber schwebte, bemerkte es beinahe nicht. Sie sah nur ganz kurz Mavra und ihre drei katzenartigen Bewacher hinaushuschen und in den Wald laufen. Sie folgte ihnen und versuchte vorauszudenken.
Nach ungefähr zweitausend Metern tauchte eine Lichtung auf, wo ein großes Steinbauwerk aus den Felsen herausgemeißelt zu sein schien. Dort standen zwei Wachen, die an einem sechseckigen Eingang gerade Fackeln entzündet hatten. Kein Zone-Tor, entschied Vistaru. Das hatte hier jemand gebaut.
Sie versuchte sich darüber klarzuwerden, woran sie der Ort erinnerte, und plötzlich hatte sie es. Ein alter Tempel. Ein Altar. Opferdienst?
Sie fegte sofort zurück zu Renard und Hosuru. Es galt, keine Zeit zu verlieren.
Man hob Mavra an der sechseckigen Öffnung vom Maultier und trug sie hinein. Dort befand sich eine Kammer, die Vergrößerung einer natürlichen Kalksteinhöhle. In dem breiten Gang, der zur Kammer führte, loderten Fackeln.
Es war ein Tempel, kein Zweifel. Es gab einen Bereich, wo die Betenden sich aufhalten konnten, ein Geländer, dann auf beiden Seiten eines großen gelben Steinblocks, der aus dem Felsen zu ragen schien, Tische. Der Tempel besaß zahllose Facetten, die im Fackelschein glitzerten. An beiden Wänden waren in massivem Gold sechseckige Symbole befestigt.
Der Hohepriester — denn jetzt erwies sich, daß er das war ging voraus und zündete kleine Kerzen in sechsarmigen Leuchtern an. Dann trat er hinter das Geländer und nickte den Wachen zu. Sie brachten Mavra zu ihm.
»Ausziehen«, zischte der Priester, und die Wachen rissen ihr die Kleider vom Leib. Es war plötzlich kalt.
Sie stand nackt vor dem gelben Steinblock.
Die Wachen warfen die Kleidung über das Geländer, dann trat der Priester auf sie zu. Seine gelben Katzenaugen glühten im Fackelschein auf unheimliche Weise.
»Spionin«, sagte er kalt,»du bist vom Hohen Priesterrat des Heiligen Schachts für schuldig befunden worden.«
Er bewegte die rechte Hand, und sie konnte ihren Kopf wieder bewegen. Sie befeuchtete die Lippen, wußte aber schon, daß sie sprechen konnte.
»Ich hatte nicht einmal einen Prozeß, das wissen Sie«, sagte sie heiser.»Ich hatte keine Gelegenheit, mich zu äußern.«
»Ich habe nicht gesagt, daß du vor Gericht gestellt würdest, sondern daß du für schuldig befunden worden bist. Es gibt keine mildernden Umstände. Im Norden pochen Heiden an unsere Tür, Heiden töten brutal und auf grausame Weise Zehntausende von Auserwählten des Schachts im Süden. Jetzt kommst du. Du bist gewiß nicht von den Olborniern. Ebensowenig kommst du auf Einladung oder mit Erlaubnis des Hohen Priesterrates. Du bist eine Spionin, und so frage ich dich: Kannst du deine Unschuld auf irgendeine Art schlüssig beweisen?«
Was für eine einseitige Frage! dachte sie. Beweise, daß du nicht gelächelt hast. Beweise, daß du deine Mutter nicht getötet hast, die der Gerichtshof nicht kennt.
»Sie wissen, daß niemand einen negativen Beweis erbringen kann«, gab sie zurück.
Er nickte.
»Versteht sich. Aber es gibt einen endgültigen Schiedsrichter.«
»Sie wollen mich töten?«
Der Priester sah sie entsetzt an. Mavra fragte sich, warum sie früher Katzen gemocht hatte.
»Natürlich töten wir nicht, außer in Notwehr. Alles Leben kommt vom Heiligen Schacht und darf nicht leichthin genommen werden. Da du im Gegensatz zu deinen Begleitern kein Leben genommen hast, könnten wir dir das deine nicht nehmen.«
Das gab ihr ein wenig Hoffnung.
»Der Schacht hat in Seiner unendlichen Weisheit und Barmherzigkeit unter den Olborniern eine gerechtere Methode des endgültigen Urteilens geschaffen — endgültig, absolut und schlüssig. Der Stein, vor dem du stehst, ist einer von sechs Steinen an den sechs Ecken von Olborn. Er ist Beweis für die Bevorzugung Olborns durch den Heiligen Schacht. Seine Kraft kommt aus dem Schacht selbst. Was er tut, kann nie ungeschehen gemacht werden.«
Sie erschrak. Sie dachte an Renard, der in ein anderes Wesen verwandelt worden war. Was konnte dieser Stein bewirken?
»Der Schacht sah in Seiner unendlichen Weisheit, daß Sein auserwähltes Volk in einem rauhen Land war, reich, aber ohne Lasttiere, die ihm hätten helfen können, das Land zu bestellen, die Lasten zu schleppen, die Wasserräder zu drehen. So haben wir die Heiligen Steine. Wenn ein Missetäter, ob ein fremder oder ein olbornischer, beschuldigt wird, bringt man ihn vor einen der Hohen Priester des Heiligen Schachts und dann in seiner Begleitung zum Heiligen Stein. Bist du unschuldig, dann wird dir nichts geschehen. Du darfst frei deiner Wege gehen, geschützt vom Siegel des Heiligen Schachts. Bist du aber schuldig, dann wird er dir die wunderbarste Gerechtigkeit zuteil werden lassen.«Er machte eine Pause.»Du hast den Detik gesehen, auf dem man dich hergebracht hat?«
Sie dachte kurz nach. Die kleinen Maultiere mit den großen Ohren und den traurigen Augen.
»Ja«, sagte sie.
Wo, zum Teufel, blieben Renard und die Lata?
»Sie sind geschlechtslos, freudlos. Völlig gehorsam, sind sie unfähig, irgend jemandem etwas anzutun, und müssen allen Befehlen gehorchen. Bist du schuldig, dann wirst du dich in einen Detik, ein Tier, verwandeln, das dazu verurteilt ist, für den Rest seines Lebens in stummer Arbeit den Olborniern zu dienen.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Sie meinen, die Maultiere — sie alle — waren einmal Leute?«
Der Priester nickte.»So ist es.«Er wandte sich an die Wachen.»Haltet ihre Arme fest.«
Dann trat er näher auf Mavra zu. Sie spürte, wie ihre Arme an den Handgelenken festgehalten wurden. Der Priester bewegte die Arme, und sie spürte, daß sie ihren ganzen Körper wieder bewegen konnte.
»Führt ihre Hände an den Heiligen Stein!«befahl der Priester mit hallender Stimme. Die kraftvollen Arme überwanden ihren Widerstand und drückten ihre Hände auf den facettierten gelben Stein.
Etwas, das wie ein starker, brennender Elektroschock wirkte, fuhr durch ihre Arme zu den Schultern. Die Wirkung war so stark und schmerzhaft, daß sie aufschrie und sich zurückwarf.
»Das war Mavra!«rief Vistaru.
»Schnell! Beeilt euch!«schrie sie Hosuru und Renard zu.
Im Inneren der Kammer schien der Priester zu lächeln. Er sagte noch einmaclass="underline" »Hin mit ihr!«