Auf der Ebene herrschten etwa fünfzehn Grad Celsius, was erträglich war, aber so warm würde es nicht lange bleiben. Auf je dreihundert Meter Höhe sank die Temperatur um fast zwei Grad, und manche der Bergpässe lagen über dreitausend Meter hoch.
Sie gingen gemächlich zum Unterschlupf und verfehlten ihn beinahe. Es war eine niedrige Hütte aus alten Steinen und Holz am Fels, so alt und verwittert, daß sie beinahe ein Teil der natürlichen Formationen zu sein schien. Sie sah verlassen aus, trotzdem gingen sie vorsichtig darauf zu.
Plötzlich öffnete sich knarrend die hohe Tür, und ein Wesen kam heraus.
Es sah beinahe aus wie eine menschliche Frau. Lange Haare, hinten zu einer Art Pferdeschwanz zusammengebunden, ein attraktives, ovales Gesicht und lange, schlanke Arme. Aber sie hatte kleine, spitze Ohren und von den Hüften abwärts, unter der leichten Jacke, den Körper eines schwarzweiß gefleckten Pferdes.
Eine Zentaurin, dachte der gebildete Renard schon lange nicht mehr verwundert. Einem solchen Wesen zu begegnen, war nicht mehr seltsam, man hatte beinahe schon damit rechnen können.
Die Frau lächelte, als sie die anderen sah, und winkte.
»Hallo!«rief sie mit angenehmer Sopranstimme.»Kommt herauf! Ich hatte euch fast schon aufgegeben!«
Vistaru erwiderte erstaunt:»Sind Sie unser Führer aus Dillia?«
Die Dillianerin war noch ein Mädchen, vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt.
Sie nickte.
»Ich bin Tael. Kommt herein, ich mache ein kleines Feuer an.«
Sie betraten die Hütte. Tael warf einen verwunderten Blick auf Mavra, sagte aber nichts. Doma wartete draußen und tat sich an Gras gütlich.
Die Hütte war für Dillianer gebaut — es gab stallähnliche Boxen für vier von ihnen, am Boden Stroh und auf Ziegelsteinen einen kleinen Ofen. Tael zündete ein Feuer an.
Dillianer setzten sich nie; ihre Körper konnten das nicht aushalten. Die anderen ließen sich auf dem Stroh nieder, und Mavra lehnte sich auf die Seite. Platz gab es genug.
»Ah, entschuldigen Sie, Tael«, sagte Renard nach den ersten Bemerkungen,»aber sind Sie nicht ein bißchen jung für das alles?«
»Ich gebe zu, daß ich erst fünfzehn bin, aber ich bin im Gebirge von Dillia geboren. Meine Familie hat seit langer Zeit auf beiden Seiten der Grenze gejagt und Fallen gestellt. Ich kenne jede Fährte und jeden Weg hier.«
»Und die Gedemondas?«fragte Mavra.
»Sie haben mir nie etwas getan«, entgegnete Tael achselzuckend.»Ab und zu sieht man sie — große, weiße Gestalten vor dem Schnee. Nie aus der Nähe. Wenn man hinkommt, sind sie immer fort. Manchmal hört man sie auch knurren und brüllen und alle möglichen seltsamen Laute erzeugen, die von den Bergen widerhallen.«
»Ist das ihre Sprache?«fragte Vistaru.
»Das glaube ich nicht. Ich habe es früher auch gedacht, aber man hat mir einen Übersetzer-Kristall eingesetzt, und ich kann keinen Unterschied feststellen. Ich frage mich manchmal, ob sie überhaupt eine Sprache haben, so wie wir das verstehen.«
»Das könnte schlecht sein«, meinte Renard.»Wie kann man mit jemandem reden, der nicht zu antworten vermag?«
Tael nickte.
»Ich bin immer noch ganz aufgeregt. Wir haben immer wieder versucht, mit ihnen in Verbindung zu treten, und ich möchte dabeisein, wenn es gelingt.«
»Falls es gelingt«, sagte Hosuru pessimistisch.
»Ich mache mir Sorgen wegen dem Rauch aus dem Ofen«, bemerkte Mavra.»Nicht die Gedemondas ängstigen mich, sondern die Kriegführenden. Sie müssen in der Nähe sein.«
»Ich habe sie schon gesehen«, erklärte Tael,»aber sie haben mich nur scharf beobachtet und sind weitergezogen. Ein paar fliegende Pferde wie das Ihre, und sehr seltsame, schöne Wesen mit drei Meter langen Schmetterlingsflügeln. Gelandet ist niemand.«
»Yaxa und Agitar«, sagte Vistaru besorgt.»Späher. Wir können nicht lange hierbleiben.«
»Nein«, meinte auch Tael.»Wenn es hell wird, steigen wir den Bergweg hinter der Hütte hinauf. Mit etwas Glück erreichen wir am frühen Nachmittag Lager 43, und von dort kommen wir in den Schnee — und die Luft wird dünn.«
»Wie hoch liegt das Lager?«fragte Renard.
»1562 Meter«, erwiderte Tael.»Aber ihr seid schon fast vierhundert Meter hoch. Man sieht es der Ebene nicht an, daß sie ansteigt.«
»So weit könnten wir hinauf fliegen«, sagte Vistaru.»Wir kommen bis auf etwa achtzehnhundert Meter hinauf, und Doma schafft das auch, glaube ich.«
»Das hilft aber unserer Führerin hier nicht. Sie hat keine Flügel«, gab Renard zu bedenken.
Tael lachte.
»Das macht nichts. Ich sagte schon, daß ich im Gebirge aufgewachsen bin. Es ist sogar noch besser, wenn wir einen Vorsprung bekommen, doch nach Lager 43 wird es mit dem Fliegen schwierig. Ich kann heute abend losgehen und euch am Morgen dort treffen.«Sie sah Mavra an.»Aber Sie werden sich ganz anders anziehen müssen. Ihr alle. Erfrierungen sind die große Gefahr.«
»Wir haben Wintersachen«, erwiderte Hosuru.»Und Sie sollten, wurde uns gesagt, auch etwas mitbringen.«
Tael nickte, ging zu einer Box und zog schwere Säcke heraus, ohne sich anstrengen zu müssen. Sie brachte die Sachen zum Vorschein: Wärmeanzüge, eigens für die Lata angefertigt, mit durchsichtigen, aber festen und starren Schutzverkleidungen für die Flügel, einen dicken Mantel und Handschuhe für Renard.
»Das werden Sie auch brauchen können«, sagte sie und warf ihm kleine Gegenstände hin, die sich als Umkleidungen für seine Hufe erwiesen, mit einer flachen, scheibenförmigen Dornensohle, damit er sich in Schnee und Eis besser halten konnte. Sie holte noch mehr Kleidung heraus, größere und ohne Flügelschutz. Sie blickte ein wenig betroffen. Diese Stücke waren offenkundig für Zweibeiner mit Händen und Füßen vorgesehen.
Mavra erklärte hastig, was geschehen war. Das Mädchen nickte mitfühlend.
»Ich wüßte aber nicht, wie man nun die Sachen verwenden könnte«, sagte sie.»Mit den Füßen müßten Sie, wie ich, im Schnee zurechtkommen, aber Sie brauchen etwas um den Körper, weil Sie nicht meine schützende Hautschicht und Behaarung haben.«
»Wir werden tun, was wir können«, erwiderte Mavra.»Renard wird Doma führen müssen, wenn wir oben sind. Ich reite auf ihr, solange es geht. Das sollte uns helfen.«
Renard ging zur Tür und schaute zum Himmel hinauf. Keine Spur von fremden oder feindseligen Wesen, ein paar träge Vögel, das war alles. Aber er fragte sich, wie weit die Armeen entfernt sein mochten.
An der Grenze von Palim und Gedemondas
Der Yaxa landete mit flatternden Flügeln, sah die große Zahl der Bodentruppen und das viele Nachschubmaterial an der Grenze. Es sah gut aus.
Die Reise war lang und fast tödlich gewesen. Das Wesen berührte den Boden und ging auf allen acht Tentakeln zu dem großen Kommandozelt, das sich gerade noch in Palim befand. Es betrat das Zelt:»Marker zur Stelle, Sektionsführer.«
Der Offizier nickte.
»Gut, Sie wiederzusehen, Marker. Wir dachten schon, der Feind hätte Sie erwischt.«
»Ums Haar«, entgegnete der Späher.»Die verdammten kleinen blauen Männer mit ihrer Elektrizität und den fliegenden Pferden. Die Cebu sind zu schwerfällig und kaum eine Gefahr, aber vor den anderen muß man sich hüten.«
»Wie weit sind sie entfernt?«
»Auf der anderen Seite«, erwiderte Marker.
Das bedeutete mindestens dreihundert Kilometer, eine gute Entfernung, und die Ebene, das natürliche Lager für den letzten Angriff, lag nur hundert Kilometer südlich von ihnen. Sie würden die ersten sein.
»Mit der Luftbrücke über Alestol geht es auch langsam. Sie müssen schließlich alles, was sie brauchen, ohne Zwischenstation eine weite Strecke befördern — weiter, als die fliegenden Pferde oder Cebu normalerweise kommen. Viele sind schon erschöpft, und diejenigen, welche landen, werden von den großen, dicken Pflanzen in Schlaf versetzt und verzehrt. Man darf die Alestoli auch nicht unterschätzen — sie haben Übersetzer-Kristalle und ein Hypnosegas dazu. Wenn einer mit einem Übersetzer einen Agitar oder Cebu erwischt, wird der gegen seine eigenen Leute losgeschickt.«