Gedemondas — auf einem Steig
Antor Trelig fluchte zum tausendstenmal. Eine Schwierigkeit nach der anderen, dachte er mürrisch. Vor ihnen Lawinen, der Steig ausgehöhlt, beinahe so, als wolle jemand versuchen, sie aufzuhalten oder zu behindern, obwohl sie nichts gesichtet hatten.
Auf der Karte war der Weg viel deutlicher erkennbar als in Wirklichkeit. Er war nicht gut erhalten, manche Schutzhütten verfielen, offenbar schon seit Jahren, und der Pfad verschwand oft spurlos. Ihre Gruppe von ursprünglich vierzehn Mitgliedern — zwölf Agitar, er und seine nicht so treue Frau Burodir — umfaßte noch neun Personen, Burodir leider immer noch eingeschlossen.
Trotzdem hatten sie es auf irgendeine Weise geschafft und waren nicht vom Weg abgekommen. Auf irgendeine Weise würden sie das Ziel erreichen. Auf jeden Fall er selbst. Was die anderen taten, war ihre Sache.
Heute konnten sie es allerdings nicht mehr schaffen, aber gewiß morgen nachmittag, wenn nichts mehr dazwischenkam.
Auf dem großen Bergweg
»Ifrit! Meinen Feldstecher!«rief Ben Yulin.
Die Kuh griff in die Packtasche und reichte ihn ihm.
»Hier, Herr«, sagte sie eifrig.
Er hob das Glas an die Augen.
Es war nicht nur ein Fernglas; es besaß besondere Zusatzlinsen, die seine Kurzsichtigkeit ausglichen.
»Probleme?«knurrte eine Stimme neben ihm.
Er ließ das Glas sinken und starrte das Wesen an. Es sah aus wie ein behaarter wandelnder Busch, so groß wie er, ohne erkennbare Augen, Ohren oder andere Organe. In Wahrheit war es kein Einzelwesen, sondern eine Kolonie von sechsunddreißig Lamotien, dem kalten Wetter und dem Schnee angepaßt.
»Die Hütte dort oben«, sagte Yulin.»Sieht irgendwie verdächtig aus. Ich will nicht noch einmal auf so etwas wie die falsche Spur hereinfallen. Wir haben zwei gute Kühe dort verloren.«
Nicht von den seinen, aber das sprach er nicht aus.
»Wir haben dreißig Brüder verloren, vergessen Sie das nicht«, sagte das Lamotien-Wesen.»Wir geben zu, daß es seltsam aussieht. Was sollen wir tun?«
»Warum gehen nicht zwei von euch hinauf? Macht euch weiß oder sonst etwas, und seht euch um.«
Die Lamotien überlegten.
»Zwei von jedem, meinen wir. Schneehasen.«Das Wesen schien plötzlich zu zerfallen in kleine, gleichgroße, flauschige Teile. Zwei sanken auf der einen Seite in den Schnee, zwei auf der anderen. Yulin starrte gebannt auf das Gebilde, das sich wieder zusammenfügte. Es wirkte etwas schmaler, aber sonst unverändert.
Die beiden Lamotien im Schnee schienen zu verschmelzen, und das zweite Paar zeigte dieselbe Verwandlung. Nach weniger als zwei Minuten hatten sich zwei Schneehasen gebildet, die zur Hütte hoppelten. Die anderen warteten; nur der Anführer der Kolonie besaß einen Übersetzer, so daß sie sich neu formen mußten, bevor er Bescheid wußte.
Nach kaum zehn Minuten kehrten die Hasen zurück, sprangen wieder in den behaarten Klumpen und verschmolzen damit. Nach einer längeren Pause sagte das Gebilde:»Die Hütte ist leer. Aber Sie hatten recht. Es liegen Packtaschen und Vorräte herum. Vor kurzem war da jemand, und man ist fortgegangen — gewiß nicht aus freien Stücken.«
»Glaubt ihr, daß es die Zentauren waren, denen wir gefolgt sind?«
»Vermutlich. Aber jetzt sind sie fort.«
»Spuren?«
»Das ist das Seltsame. Keine. Im Umkreis von einigen hundert Metern nichts.«
»Hier sind sie auf jeden Fall nicht heruntergekommen«, sagte Yulin sorgenvoll.»Wo können sie sein?«
Sie schauten sich um.
»Und mit wem?«fragte das Lamotien-Gebilde.
Ein anderer Teil des Geländes
Es schien, als wären sie seit einer Ewigkeit unterwegs; sie rasteten oft — ihre Bewacher schienen zu begreifen, daß sie mehr Sauerstoff brauchten, als die Atmosphäre jetzt zu bieten hatte —, aber es gab kein Gespräch. Ein paar Brummlaute und Gesten, nichts sonst.
Sie waren aber auf keinem Weg mehr, den Tael kannte. Manchmal wurde die Fährte so undeutlich, daß sich selbst die riesengroßen Gedemondas nicht mehr zurechtzufinden schienen, aber das täuschte.
Doma, die Mavra und Renard trug, wurde von Tael geführt, auf der die beiden Lata saßen. Voraus gingen vier der riesigen Schneewesen, hinter ihnen noch einmal vier andere. Hier und dort sah man ihre Genossen, manchmal eine große Anzahl, manchmal einen oder zwei, deren Wege sich kreuzten, Mavra war immer noch nicht sicher, was sie waren. Sie erinnerten sie eigentlich an gar nichts. Rundum waren sie schneeweiß, zeigten nichts von dem Schmutz, den derart dichtes Haar gewöhnlich aufweist. Groß — Tael war über zwei Meter groß, und sie überragten sie fast um einen Kopf — und sehr schlank. Humanoid, aber ihre Gesichter wirkten hundeähnlich, schneeweiß mit langen, sehr schmalen Schnauzen und schwarzer Nase. Die Augen waren zurückgesetzt, groß, sahen aber sehr menschlich aus und waren von leuchtendem Hellblau. Ihre Hände und Füße bildeten geschlossene, große, runde Platten, Handflächen und Sohlen waren aus einem festen, weißen, pfotenartigen Stoff. Aber wenn sie die Finger spreizten, ihre langen, dünnen Finger, hatten sie drei und einen Daumen, obschon ihre Hände fast ohne Knochen zu sein schienen. Sie konnten sie in jeder Richtung biegen, auch die ganze Hand, als wäre sie aus einer Art Kitt. Finger und Zehen besaßen lange, rosige Krallen, die das einzige — außer der Nase — waren, was nicht weiß an ihnen war. Selbst das Innere ihrer flachen, großen Ohren war auch weiß.
Sie verwischten die Spuren auf sehr einfache Weise. Sie trugen fließende weiße Umhänge aus irgendeinem Tierfell und schleppten sie beim Gehen hinter sich her, so daß der leichte Pulverschnee schnell wieder geglättet wurde. Sie versanken bei weitem nicht so tief im Schnee, wie man nach ihrem Gewicht hätte vermuten mögen; die Plattensohlen wirkten wie Schneeschuhe.
Spuren spielten hier keine Rolle; sie wußten, daß sie in den Mittelpunkt des Lebens von Gedemondas geführt wurden, was immer das sein mochte.
Das war der Teil, der allen Besuchern verborgen blieb, den sie nie zeigten.
Und das wunderte sie. Warum gerade sie? Wußten die Gedemondas, daß sie kamen? Wollte man ihnen helfen? Oder waren sie Gefangene, die man befragten wollte, bevor man sie über eine Felswand warf? Es gab keine Antworten, es wurde nur marschiert.
Gelegentlich schnellten die großen Schneewesen einfach aus dem Boden herauf. Das beunruhigte sie zunächst, bis sie begriffen, daß es im Schnee Falltüren geben mußte — ob über Eishöhlen, natürlichen oder ausgeschachteten, oder Felshöhlen oder sogar künstlichen Bauwerken, die mit Schnee bedeckt waren, wußten sie nicht. Es war aber klar, daß man die Bevölkerung deshalb nicht sah, weil sie unter der Schneedecke lebte.
Die Nacht kam und stürzte diese Winterwelt in eine unheimlich leuchtende Dunkelheit. Der Nachthimmel der Sechseckwelt spiegelte sich auf den Schneehängen wider. Neu-Pompeii war nicht sichtbar, aber der Asteroid mochte noch nicht aufgegangen sein oder sich hinter den hohen Bergen verstecken.
Sie hatten keine Zeit gehabt, Vorräte mitzunehmen. Die Gedemondas waren sanft, aber unnachgiebig gewesen. Als sie protestiert hatten, waren sie einfach aufgehoben und auf die Wesen gesetzt worden, von denen sie am leichtesten getragen werden konnten: Tael und Doma.
Zu hungern brauchten sie trotzdem nicht. Als es dunkel wurde, führte man sie in eine große Höhle, die sie dort nie vermutet hätten, und andere Gedemondas brachten bekannte Früchte und Gemüse auf großen Holztellern und einen Fruchtpunsch, der sehr gut schmeckte.
Sie schienen sogar auf Mavras Probleme einzugehen. Ihr Teller war dicker und höher, damit sie leichter an das Essen kam, die Punschschüssel war tief, damit sie mühelos zu trinken vermochte.
Renard hatte auf Mavras Vorschlag hin seine elektrischen Kräfte nicht angewendet; sie waren schließlich hier, um Verbindung mit den Gedemondas aufzunehmen, und das war gelungen. Er griff dann aber doch nach einem Apfel und ließ eine leichte Ladung hineinströmen, so daß er gebacken wurde.