«Zugleich!«Bolitho zog noch stärker, unterdrückte die aufsteigende Übelkeit, die ihm die stinkenden Gase verursachten. »Zugleich!»
Widerstrebend und sehr langsam glitt das Boot in eine Stelle mit tieferem Wasser. Dann folgte eine weitere Barriere, und mehr als ein Seemann glitt fluchend und prustend im Schlamm aus.
Schließlich waren sie durch. Zitternd und ächzend stemmten sie sich ins Boot zurück, wo neuer Schrecken auf sie wartete.
Den meisten saßen große Egel am Körper. Manche versuchten, die schleimigen Würmer abzureißen, aber Bolitho rief:»Mr. Shambler, reichen Sie die Lunte weiter. Einer nach dem anderen soll die Biester abbrennen. Sonst bekommt ihr die Köpfe nicht los.»
Allday hielt die Lunte an sein Bein und fluchte, als der fette Egel auf die Bodenplanken fiel.»Mein Blut willst du saugen? Dafür sollst du braten!»
Bolitho hatte sich aufgerichtet und beobachtete, wie die sinkende Sonne die Schilfspitzen mit rot-goldenem Schimmer überzog und Drohung und Verzweiflung vorübergehend durch ihre fremdartige Schönheit vergessen ließ.
Die anderen Boote folgten. Die Besatzungen wateten über die seichten Stellen, ihre Gestalten verschwammen schon im schwindenden Licht.
«Wir wollen für die Nacht ankern«, sagte Bolitho. Lang in dem anderen Boot nickte zustimmend.»Aber wir wollen noch vor der Morgendämmerung aufbrechen und versuchen, den Zeitverlust wieder wettzumachen.»
Er musterte seine Leute. Die Matrosen kauerten auf ihren Plätzen, kaum fähig, sich zu rühren.
«Teilen Sie immer einen Mann als Wache ein, Allday. Wir sind alle so erschöpft, daß wir sonst bis Tagesanbruch und noch länger schlafen.»
Er ließ sich langsam auf die Ducht zurücksinken. Pascoe schlief bereits, den Kopf gegen das Dollbord gelehnt, seine eine Hand hing beinahe bis ins Wasser. Behutsam hob er den Arm des Jungen ins Boot und lehnte sich dann gegen die Ruderpinne.
Hoch oben erschienen bleich die ersten Sterne, und das Schilf ringsum rauschte leise in der plötzlichen Abendbrise. Einige Augenblicke wirkte sie nach der Hitze und dem Schmutz des Tages beinahe erfrischend, doch dieser Eindruck verging schnell.
Bolitho saß zurückgelehnt und beobachtete die Sterne. Er versuchte, nicht an die Stunden und Tage zu denken, die vor ihnen lagen. Im Bug stöhnte ein Mann im Schlaf auf; und ein anderer flüsterte leidenschaftlich einen Frauennamen, um gleich darauf wieder zu verstummen.
Bolitho zog die Knie ans Kinn, die getrocknete Schlammkruste zerkratzte ihm die Haut. Er blickte auf den schlaff vor ihm liegenden Pascoe hinunter. Ob auch er träumte? Von seinem Vater, den er nie gesehen hatte? Von einer Erinnerung, die für ihn verhaßt und beschämend geworden war?
Er legte die Stirn auf die verschränkten Arme und war auf der Stelle eingeschlafen.
XI Angriff im Morgengrauen
Während des ganzen nächsten Tages ging der alptraumartige Marsch durch den Sumpf weiter, und ständig wurden ihre Qualen durch die unbarmherzige Sonne noch gesteigert. Ob sie die Boote stakten oder watend durch den zähen Schlamm zogen, war allen schon gleichgültig. Sie hatten jedes Zeitgefühl verloren und zählten auch nicht mehr, wie oft sie die Boote verließen und wieder an Bord kletterten. Ihre Körper und zerrissene Kleidung waren dick von Schmutz bedeckt, ihre Gesichter aufgequollen vor Erschöpfung.
Jetzt hatten sie im Sumpf eine offene Strecke erreicht, an der keine erkennbare Strömung die Oberfläche kräuselte. Sie war von einer dicken grünen Algenschicht bedeckt, Binsen und Schilf standen in vereinzelten Gruppen wie Geschöpfe von einem anderen Planeten.
Am späten Nachmittag, als sie die Boote über eine halb versunkene Insel aus weichem Sand schleppen mußten, ließ einer der Männer die Leine fahren und stürzte um sich schlagend und schreiend nieder. Da er völlig von Schlamm und Algen bedeckt war, konnte man zunächst nicht erkennen, was geschehen war. Ein Teil der Leute drängte sich unsicher und erschreckt um das Boot, während Bolitho und Allday den keuchenden Mann hineinhievten. Mit einem in Frischwasser getauchten Lappen säuberte Bolitho eine Stelle tief unten am Bein des Verletzten und legte eine kleine blutende Wunde frei. Er mußte auf eine Schlange getreten sein, der Biß war klar zu erkennen. Allday blieb bei dem Verletzten an Bord, während Bolitho die anderen wieder an die Schleppleinen befahl. Er wußte, daß es gegen das Schlangengift keine Hilfe gab; die Leute danebenstehen und zusehen zu lassen, wie ihr Kamerad elend starb, konnte nur schaden.
Während sie sich weiter durch den Sumpf kämpften, wurden sie von den grauenvollen Todesschreien des Mannes verfolgt; als Bo-litho sich einmal umsah, bemerkte er, daß die Matrosen ihn aus rotgeränderten Augen in schmutzbedeckten, unrasierten Gesichtern beobachteten und mehr Haß auf ihn als Mitgefühl mit ihrem Kameraden verrieten.
Barmherzigerweise brauchte das Gift nur eine Stunde, um sein
Werk zu vollenden; der leblose Körper wurde einfach über Bord gestoßen, eine grimmige Warnung für jene Boote, die dicht hinter ihnen folgten.
Die meisten konnten ihre Rationen aus Rindfleisch und hartem Schiffszwieback nicht mehr zu sich nehmen und begnügten sich mit der kärglichen Zuteilung an Trinkwasser. Bolitho hatte sie während einer kurzen Rast beobachtet. Die hastigen Bewegungen und die trüben Augen in den erschöpften Gesichtern waren ihm nicht entgangen, ebensowenig die Art, wie sie über jeden Schöpfbecher Wasser wachten, mit einem Ausdruck, der eher tierisch als menschlich war.
Doch trotz allem waren sie weitergekommen. Bolitho wußte, daß aus ihrer fügsamen Geduld Haß auf ihn geworden war, daß es nur eines geringfügigen Anlasses bedurfte, um aus dem Unternehmen eine blutige Meuterei zu machen.
Während der Nacht ließ er alle Leute schlafen und wechselte sich beim Wachen mit Allday und Shambler ab. Doch im zweiten Boot war die Wachsamkeit ungenügend. Vielleicht hatte Leutnant Lang auch seine Fähigkeiten überschätzt, die Leute unter Kontrolle zu halten.
Als Bolitho aus schwerem Schlaf erwachte, spürte er, daß Allday ihn an der Schulter rüttelte und ihm eine Pistole in die Hand drük-ken wollte.
«Was ist los?«Eine Sekunde glaubte er, er hätte verschlafen, doch als er über das Dollbord spähte, sah er, daß im Osten nur eine Andeutung von Helligkeit wahrzunehmen war und die Männer im Boot noch in ihrer verkrampften Haltung schliefen.
«Mr. Lang hat gemeldet, daß sein Wasservorrat geplündert worden ist, Captain. Das kann böse Folgen bei seinen Leuten haben, wenn sie aufwachen.»
Bolitho erhob sich taumelnd.»Behalten Sie die Pistole. «Er kletterte aus dem Boot und spürte, wie das schlammige Wasser seine Beine kühl umfing, als seine Füße bei jedem Schritt auf das andere Boot zu einsanken. Lang erwartete ihn verstört.
«Wie schlimm ist e s?»
Lang hob ratlos die Schultern.»Kaum ein Tropfen übrig. Für den Rest des Vormarsches und den Rückweg ist gerade noch ein Kanister vorhanden.»
Von einem der anderen Boote hallte eine Stimme über den Sumpf:»Es wird Zeit zum Wecken, Sir!»
Bolitho hievte sich ins Boot.»Gehen Sie sofort zu Mr. Quince und warnen Sie ihn. Dann informieren Sie auch Mr. Carlyon. «Er packte den Leutnant am Handgelenk.»Und keine Pistolen, verstanden?»
Als die Männer in dem zweiten Kutter sich aus ihrem schweren Schlaf aufrichteten, starrten sie benommen Bolitho und dann einander an, als sie ihn sagen hörten:»Während der Nacht hat sich einer über den Wasserkanister hergemacht. Zuerst hat er sich gründlich sattgetrunken und dann in seiner Gier den Rest auslaufen lassen. «Er deutete auf die schimmernde Pfütze im getrockneten Schlamm zu ihren Füßen. Nachdrücklich fügte er hinzu:»Ich nehme an, ihr wißt alle, was das bedeutet.»
Im Bug schrie eine Stimme:»Das muß Mr. Lang selbst gewesen sein. Der hat die letzte Wache gehabt!«Ein Knurren war die Antwort, als er bösartig hetzte:»Die Offiziere sorgen doch immer nur für sich!»
Bolitho stand völlig ruhig im Heck, die Hände in die Hüften gestützt. Eine plötzliche verzweifelte Wut packte ihn, weil er allein und unbewaffnet war. Doch noch stärker war er sich der Scham bewußt, die ihn überkam, als ob wirklich er dafür verantwortlich wäre.