Dort würde es viel Wehklagen geben, wenn sie die Telamon sahen, dachte er betrübt. Man konnte nur hoffen, daß ihr großes Opfer nicht umsonst gewesen war.
Am Mittag des folgenden Tages war nur noch wenig von den bedrohlichen Wetterzeichen zu sehen, die ihre Abfahrt so beschleunigt hatten. Als die langsame Prozession der Schiffe in die Bucht einlief und die Anker fallen ließ, strahlte die Sonne auf eine spiegelglatte Wasserfläche herab, als wolle sie dafür sorgen, daß den stummen Beobachtern an Land auch ja nichts verborgen blieb.
Bolitho stand auf der Schanz und beschattete seine Augen gegen das blendende Licht. Er sah, wie die Telamon, die schon so tief abgesackt war, daß das Wasser ihre unteren Stückpforten bedeckte, auf den Sandstrand unterhalb der Landzunge gezogen und auf Grund gesetzt wurde. Alle verfügbaren Boote waren ausgesetzt worden, um ihre Verwundeten an Land zu bringen. Dort warteten viele Leute, meist Frauen, die den ankommenden Booten im flachen Wasser entgegenwateten, um so früh wie möglich hineinzuschauen. Ihr Schmerz wirkte auf die große Entfernung keineswegs geringer.
Auf der erbeuteten Fregatte, die unterhalb der Hügelbatterie geankert hatte, rührten sich viele Hände, um unter der Leitung von Farquhar Vorbereitungen zur Ausschiffung der Gefangenen zu treffen und gleichzeitig die Schäden aus dem Gefecht mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln zu beseitigen. Hugh würde bald zurückkehren. Bolitho biß sich auf die Lippe. Es war seltsam, wie er seine privaten Probleme während der Jagd vergessen hatte. Und ihr Hauptproblem war immer noch, wie man den Kommodore aus seiner unerschütterlichen Stumpfheit reißen konnte. Er drehte sich schnell um, als von der Hügelbatterie ein Schuß
fiel.
Inch kletterte zur Schanz hinauf.»Sie haben ein Schiff gesichtet,
Sir.»
Bolitho starrte über den flachen Teil der Landzunge hinweg auf die offene See. Es mußte schon um das Kap herum sein und Kurs auf die Bucht genommen haben. Ein einzelnes Schiff konnte kaum ein Feind sein. Er sah Inch an.»Sicherlich Verstärkung für uns. «Er ging zur Reling.»Endlich!»
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis das einlaufende Schiff sich in voller Größe zeigte, und als es langsam in die Bucht hineinkreuzte, konnte sich Bolitho eines Gefühls der Erleichterung und der Hoffnung kaum noch erwehren. Es war ein Zweidecker, aber kleiner als die Hyperion. Im hellen Sonnenlicht sah er die erst kürzlich gestrichenen Bordwände und die frisch vergoldete Galionsfigur glänzen.
Signalflaggen wurden wie von Zauberhand an ihren Rahen hochgezogen, und er hörte, wie Carlyon dem wachhabenden Offizier zurief:»Es ist die Impulsive, vierundsechzig Kanonen, Sir. Sie hat Depeschen für den Kommodore.»
Inch sagte:»Von England!«Es kam aus tiefstem Herzen.
Bolitho sagte nichts. Die Impulsive war da, und mit ihr sein Freund Thomas Herrick. Er fühlte, wie seine Glieder zitterten, als ob das alte Fieber wieder ausgebrochen wäre, aber er achtete nicht darauf. Endlich jemand, dem er sich anvertrauen konnte. Der einzige Mann, mit dem er je Gedanken und Sorgen geteilt hatte, damals, als Herrick noch sein Erster Offizier war, und jetzt als Kommandant eines Linienschiffes. Er war da, und nichts konnte mehr so schlimm sein, wie es vor dem Krachen des Signalgeschützes gewesen war.
Er eilte die Leiter hinunter und sah seine Leute auf den Laufbrücken zu dem Neuankömmling hinüberstarren. Genau wie für ihn selber, war er ihnen mehr als nur eine Verstärkung. Die Impulsive kam aus England, und das bedeutete, daß sie für jeden etwas Besonderes darstellte: die Erinnerung an ein Dorf, eine grüne Wiese, an das Gesicht eines geliebten Menschen.
Leutnant Roth stand schon an der Einlaßpforte und musterte die angetretene Ehrenwache.
Bolitho beobachtete, wie der Anker der Impulsive ins Wasser klatschte und wie flink die Segel an den Rahen festgemacht wurden. Herrick hatte sich nicht zugetraut, selber ein Schiff zu führen. Oft genug hatte Bolitho ihm gesagt, daß er grundlos an seinen Fähigkeiten zweifle. Was er soeben an perfekter Seemannschaft gezeigt hatte, bestätigte das völlig.
Er hörte, wie Inch Leutnant Roth erzählte, daß der Kommandant, den sie gleich an Bord empfangen würden, früher einmal Erster Offizier auf der Hyperion gewesen war. Er war gespannt, ob Herrick bemerken würde, welche Veränderungen mit Inch infolge seiner größeren Verantwortung und vieler harter Arbeit vorgegangen war. Es würde ihm vielleicht wie ein kleines Wunder vorkommen. Bolitho mußte bei dem Gedanken an ihr Zusammentreffen lächeln. Aus dem Augenwinkel sah er Hauptmann Dawson seinen Säbel ziehen und die angetretenen Seesoldaten Haltung annehmen, als das Boot der Impulsive in die Kette der Rüsteisen einhakte.
Als ein Dreispitz in der Einlaßpforte auftauchte und die Bootsmannsmaatenpfeifen trillerten, trat Bolitho vor und streckte beide Hände zum Willkommensgruß aus.
Kapitän Herrick kletterte durch die Pforte und nahm seinen Hut ab. Dann ergriff er Bolithos Hände und hielt sie einige Sekunden fest. Seine Augen, die so strahlend blau und klar waren wie am ersten Tag, als sie einander begegnet waren, musterten ihn mit offensichtlicher Bewegung.
Bolitho sagte:»Es tut gut, Sie hier zu haben, Thomas. «Er nahm ihn am Arm und führte ihn zur Achterdeckstreppe.»Der Kommodore leidet noch an einer Verwundung, aber ich werde Sie sofort zu ihm bringen. «Er machte eine Pause und sah ihn wiederum an.»Wie sieht's aus in England? Konnten Sie Cheney noch sehen, bevor Sie ausliefen?»
«Ich habe Plymouth angelaufen, um Vorräte zu ergänzen, und bin auch aufs Land gefahren, um sie zu besuchen. «Herrick drehte sich um und ergriff seine Hände.»Mein Gott, wie soll ich es Ihnen sagen?»
Bolitho starrte ihn an, und es lief ihm eiskalt über den Rücken.»Was ist los? Ist etwas passiert?»
Herrick sah an ihm vorbei, und vor seinem Blick verwischte sich alles, als er noch einmal seinen Teil dieses schrecklichen Dramas durchlebte.
«Sie hatte Ihre Schwester besucht. Es sollte die letzte Reise sein, bevor das Kind geboren wurde. In der Nähe von St. Budock muß irgend etwas die Pferde erschreckt haben, denn sie gingen plötzlich durch, die Kutsche kam von der Straße ab und stürzte um. «Er machte eine Pause, aber als Bolitho nichts sagte, fuhr er fort:»Der Kutscher war sofort tot, und Ferguson, Ihr Verwalter, der mit im Wagen saß, zunächst besinnungslos. Als er wieder zu sich gekommen war, trug er Cheney zwei Meilen weit. «Er mußte heftig schlucken.»Für einen Einarmigen war das gewiß wie hundert Meilen. «Er faßte Bolithos Hände mit festem Griff.»Aber sie war tot. Ich habe den Doktor des Ortes und den Garnisonsarzt von Truro, der herübergeritten kam, gesprochen. Sie konnten nichts mehr für sie tun. «Er senkte den Blick.»Und auch nicht für das Kind.»
«Tot? «Bolitho zog die Hände zurück und trat zur Reling. Hinter ihm gingen die Seesoldaten der Ehrenwache plaudernd auf dem Weg in ihr Wohndeck vorbei, und hoch über ihm auf der Großrah saß ein Matrose und pfiff bei seiner Arbeit munter vor sich hin. Wie durch einen Nebel erkannte er Allday, der ihn von der obersten Stufe der Achterdeckstreppe beobachtete. Aus diesem Blickwinkel wirkte er kleiner, und sein Gesicht lag im Schatten. Es konnte nicht sein. Im nächsten Augenblick würde er aufwachen, dann war alles wieder wie zuvor.
Herrick rief:»Allday, sorgen Sie für Ihren Kommandanten!»
Und als Inch mit überraschtem und fragendem Gesicht auf ihn zutrat, gab er ihm einen Klapps auf die Schulter und sagte:»Melden Sie mich beim Kommodore, ob er verwundet ist oder nicht. «Er streckte den Arm aus, als Inch zu Bolitho hinübergehen wollte.»Und zwar sofort, Mr. Inch!»
Allday schritt schweigend neben Bolitho her, bis sie den Kartenraum erreicht hatten. Als Bolitho gleich am Schott in einen Stuhl sank, fragte er leise:»Was ist passiert, Käpt'n?»
«Meine Frau, Allday! Cheney…»