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Er starb. Es ist nicht gerecht, dachte Sour Billy. Er stand so dicht davor. Dreizehn Jahre lang hatte er Blut getrunken und war stärker und stärker geworden, und jetzt hatte er es fast geschafft. Er würde ewig leben, doch nun nahmen sie ihm alles wieder weg, beraubten ihn, wie sie ihn immer beraubt und betrogen hatten. Niemals hatte er etwas für sich gehabt. Es war alles ein großer Betrug. Die Welt hatte ihn wieder übertölpelt, die Nigger und die Kreolen und die reichen Dandies, sie hauten ihn übers Ohr und lachten ihn aus, und nun betrogen sie ihn um sein Leben, um seine Rache, um alles.

Er mußte Julian erreichen. Wenn er die Verwandlung schaffte, dann wäre alles wieder in Ordnung. Ansonsten würde er hier sterben, und sie würden ihn erneut auslachen. Sie würden ihn einen Narren nennen, Abschaum, Niggerdreck, und sie würden auf sein Grab pinkeln. Er mußte zu Mister Julian. Dann wäre er derjenige, der lachte, ja, das würde er tun, lachen.

Sour Billy holte tief Luft. Er spürte das Messer, das er noch immer in der Hand hielt. Er bewegte den Arm, steckte sich das Messer in den Mund, zwischen die Zähne. Er zitterte. So! Das tat nicht mehr so furchtbar weh. Seine Arme waren noch in Ordnung. Seine Finger tasteten über den Boden und suchten nach einem Widerstand unter dem Moder und dem Blut. Dann zog er mit aller Kraft und rutschte vorwärts. Die Brust brannte ihm, der Schmerz tobte in den Eingeweiden, die Messerklinge verrichtete ihr furchtbares Werk in ihm. Er blieb erschöpft liegen. Aber als der Schmerz etwas abebbte, öffnete Sour Billy die Augen und lächelte. Er hatte sich bewegt! Er hatte sich fast einen halben Meter vorwärts gezogen. Noch fünf‐ oder sechsmal das gleiche, und er hätte die Treppe erreicht. Dann könnte er sich an dem reichverzierten Geländerbalken abstützen und sich nach oben ziehen. Denn von dort drangen die Stimmen zu ihm. Er würde zu ihnen gelangen. Er wußte, daß er es schaffen könnte. Er mußte es einfach schaffen.

Sour Billy Tipton streckte die Arme aus, grub die langen Fingernägel ins Holz, und die Zähne bissen hart auf die Messerklinge.

KAPITEL VIERUNDDREISSIG

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
Mai 1870

Die Stunden vergingen in Stille, in einer Stille, die von Angst geprägt war.

Abner Marsh saß dicht bei Damon Julian, hatte den Rücken gegen die schwarze Marmorbar gelehnt, schonte den gebrochenen Arm und schwitzte. Julian hatte ihm schließlich gestattet, sich aus seiner unbequemen Lage auf dem Bauch aufzurichten, als die Schmerzen im Arm für Marsh zuviel wurden und er zu stöhnen begann. In dieser Haltung schienen die Schmerzen nicht so schlimm zu sein, aber er wußte, daß die Qualen sofort wieder anfangen würden, wenn er sich zu bewegen versuchte. Daher saß Marsh sehr still da, hielt den Arm fest und dachte nach.

Marsh war nie ein besonders guter Schachspieler gewesen, wie Jonathon Jeffers es ihm ein halbes dutzendmal bewiesen hatte. Manchmal vergaß er sogar von Spiel zu Spiel, wie die verdammten Figuren zogen. Doch sogar jetzt wußte er genug, um ein Patt zu erkennen.

Joshua York saß steif in seinem Sessel, die Augen auf diese Entfernung dunkel und undeutbar, den ganzen Körper angespannt. Die Sonne hämmerte auf ihn herab, zerstörte sein Leben, verbrannte seine Kraft, wie sie morgens auch die Flußnebel zu verbrennen pflegte. Er bewegte sich nicht. Wegen Marsh. Denn Joshua wußte, wenn er angreifen sollte, würde Abner Marsh an seinem eigenen Blut ersticken, ehe er Julian erreicht hätte. Vielleicht könnte Joshua Damon Julian dann endgültig töten, aber das würde für Marsh keinen Unterschied mehr machen.

Julian befand sich auch in einer Pattsituation. Wenn er Marsh tötete, verlöre er seinen Schutz. Dann brauchte Joshua keine Rücksicht mehr zu nehmen und könnte sich auf ihn stürzen. Davor hatte Damon Julian Angst. Abner Marsh kannte diese Situation. Julian hatte Joshua York zwar schon Dutzende von Malen gebrochen und sein Blut getrunken, um die Niederlage zu besiegeln. Aber York hatte einmal triumphiert. Und das reichte aus. Julian hatte seine Gewißheit der Überlegenheit verloren. In ihm lebte nun die Angst wie eine Made in einer Leiche.

Marsh fühlte sich schlecht. Der Arm schmerzte ihn furchtbar, und er konnte nichts tun. Wenn er York und Julian nicht beobachtete, kehrten seine Blicke immer wieder zu der Schrotflinte zurück. Zu weit, sagte er sich. Viel zu weit weg. Mindestens zwei Meter. Es war unmöglich. Marsh wußte, daß er es niemals schaffen würde, nicht einmal unter den günstigsten Bedingungen. Und mit einem gebrochenen Arm … Er biß sich auf die Unterlippe und versuchte, einen anderen Weg zu finden. Jonathon Jeffers hätte sicherlich eine raffinierte Idee gehabt. Marsh kam nur auf eine simple, direkte und dumme Taktik — aufzuspringen und sich das Gewehr zu schnappen. Doch wenn er das täte, dann wäre er ein toter Mann.

»Stört dich das Licht, Joshua?« fragte Julian einmal, nachdem sie lange so dagesessen hatten. »Du mußt dich schon daran gewöhnen, wenn du einer von ihnen werden willst. Alles brave Vieh liebt den Sonnenschein.« Er lächelte. Dann verblaßte das Lächeln so schnell, wie es aufgetaucht war. Joshua York erwiderte nichts darauf, und Julian schwieg.

Während er ihn betrachtete, dachte Marsh, wie sehr Julian selbst verfallen zu sein schien, genauso wie der Dampfer und Sour Billy. Doch jetzt war es irgendwie anders, beängstigender. Nach dieser einen einzigen Frage dachte er nicht mehr an Spott. Er sagte nichts mehr. Er starrte ins Nichts, und seine Augen waren kalt und schwarz und tot. Manchmal nur schienen sie noch aufzuleuchten in dem tiefen Schatten, in dem er saß. Aber sie hatten nichts Menschliches mehr an sich. Marsh erinnerte sich an den Abend, als Julian an Bord der Fiebertraum gekommen war. Als er in diese Augen geblickt hatte. Es war so gewesen, als hätte er verfolgen können, wie eine Maske nach der anderen abfiel, bis am Ende nur noch das nackte Tier übrigblieb. Jetzt war es anders. Nun schienen die Masken überhaupt nicht mehr zu existieren. Damon Julian war immer böse gewesen, aber ein Teil dieses Bösen war menschlich gewesen: seine Gemeinheiten, seine Lügen, sein furchtbares Lachen, diese grausame Freude an den Qualen anderer, seine Liebe zur Schönheit und deren Vernichtung. All das schien nun verschwunden zu sein. Nun war da nur noch das Tier, das mit lauernden Augen in der Dunkelheit kauerte. Julian spottete nicht mehr über Joshua oder Abner Marsh. Er saß nur noch da und wartete, eingehüllt in Dunkelheit, das alterslose Gesicht bar jeden Ausdrucks, die Augen uralt und leer.

Abner Marsh erkannte in diesem Moment, daß Joshua recht gehabt hatte. Julian war wahnsinnig oder noch schlimmer. Julian war jetzt ein Gespenst, und das Ding, das in seinem Körper lebte, war völlig gedankenlos.

Trotzdem, so dachte Marsh, wird es am Ende siegen. Damon Julian mochte sterben, wie alle anderen Masken gestorben waren. Aber die Bestie würde weiterleben. Julian träumte von der Finsternis und vom Schlaf, aber das Raubtier konnte nicht sterben. Es war schlau, geduldig und stark.

Abner Marsh blickte wieder zu dem Gewehr hinüber. Wenn er es doch nur in die Hand bekäme. Wäre er doch nur so schnell und stark wie vor vierzig Jahren! Wenn Joshua das Raubtier doch nur lange genug ablenken könnte. Marsh war weder schnell noch stark, und sein Arm war gebrochen und ein einziger Schmerz. Er konnte nicht aufspringen und sich die Waffe holen. Die Waffe lag so, daß die Mündung auf Joshua zielte. Wenn Marsh es also doch versuchen sollte, dann riskierte er sogar, seinen Partner zu töten. Nein, mit einem gebrochenen Arm war nichts anzufangen. Es wäre vergebens. Die Bestie war zu schnell.

Ein Stöhnen drang über Joshuas Lippen, ein halb unterdrückter Schmerzensschrei. Er legte eine Hand auf die Stirn, dann beugte er sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Haut war bereits rosig. Nicht mehr lange, und sie wäre rot. Dann schwarz und verbrannt. Abner Marsh sah geradezu, wie alles Leben aus ihm wich. Ein ungeheurer Wille mußte ihn an diesem Platz festhalten. Und plötzlich mußte Marsh etwas sagen. »Töte ihn!« rief er laut. »Joshua, geh aus dem Licht und töte ihn, verdammt noch mal. Nimm keine Rücksicht auf mich!«