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Von jedem Sieger wird erwartet, dass er ein Talent hat. Ein Hobby, das man pflegt, da man ja weder zur Schule gehen noch arbeiten muss. Es kann eigentlich alles sein, alles, wovon sich in einem Interview erzählen lässt. Peeta hat tatsächlich ein Talent, er kann malen. Jahrelang hat er die Torten und Kekse in der Bäckerei seiner Familie verziert. Aber jetzt, da er reich ist, kann er es sich leisten, richtige Farbe auf Leinwand zu pinseln. Ich habe kein Talent, mal abgesehen von illegalem Jagen, aber das gilt nicht. Oder vielleicht Singen, was ich nicht in einer Million Jahren für das Kapitol tun würde. Meine Mutter hat versucht, mich für die unterschiedlichsten Hobbys von einer Liste, die Effie Trinket ihr geschickt hat, zu begeistern. Kochen, Blumenbinden, Flötenspiel. Nichts davon hat geklappt, während Prim für alle drei Talent hatte. Schließlich hat Cinna sich eingeschaltet und angeboten, meine Leidenschaft für Modedesign zu entwickeln, die wirklich erst entwickelt werden musste, da sie bis dahin gar nicht existierte. Aber ich habe zugestimmt, weil ich auf diese Weise mit Cinna reden konnte, und er versprach, die ganze Arbeit zu machen.

Jetzt drapiert er mein Wohnzimmer mit Kleidern, Stoffen und Skizzenbüchern voller Zeichnungen, die er angefertigt hat. Ich nehme eins der Skizzenbücher und schaue ein Kleid an, das ich angeblich entworfen habe. »Also, ich finde mich wirklich vielversprechend«, sage ich.

»Zieh dich an, du nichtsnutziges Ding«, sagt er und wirft mir ein Bündel Kleider zu.

Ich interessiere mich zwar nicht für Design, aber ich liebe die Kleidung, die Cinna für mich entwirft. So wie diese hier. Eine locker fallende schwarze Hose aus dickem, warmem Stoff.

Ein bequemes weißes T-Shirt. Ein Pulli aus grüner, blauer und grauer lämmchenweicher Wolle. Lederne Schnürstiefel, die meine Zehen nicht einquetschen.

»Hab ich meine Kleider selbst entworfen?«

»Nein, es ist dein Ziel, deine eigenen Kleider zu entwerfen und wie ich zu sein, dein großes Mode-Idol«, sagt Cinna. Er reicht mir einen kleinen Stapel Karten. »Das liest du aus dem Off, während die Kleider gefilmt werden. Lass es so klingen, als ob es dich wirklich interessiert.«

In diesem Moment kommt Effie Trinket mit kürbisfarbener Perücke auf dem Kopf herein und mahnt alle: »Vergesst mir nicht den Zeitplan!« Sie küsst mich auf beide Wangen und winkt das Kamerateam herein, dann sagt sie mir, was ich zu tun habe. Effie allein ist es zu verdanken, dass wir im Kapitol immer pünktlich waren, also tue ich ihr den Gefallen. Ich hüpfe herum wie eine Marionette, halte Kleider hoch und sage sinnlose Sätze wie »Ist das nicht super?«. Während ich begeistert von meinen Karten ablese, nehmen die Tontechniker mich auf, um meine Kommentare später einfügen zu können. Dann werde ich hinausgeworfen, damit die Kameraleute in Ruhe meine beziehungsweise Cinnas Entwürfe filmen können.

Prim ist für das Ereignis extra früher von der Schule nach Hause gekommen. Jetzt steht sie in der Küche und wird von einem anderen Team interviewt. Sie sieht wunderschön aus in einem himmelblauen Kleid, das ihre Augen zur Geltung bringt; die blonden Haare sind mit einem Band in der gleichen Farbe zurückgebunden. Sie beugt sich auf den Spitzen ihrer glänzenden weißen Stiefel ein wenig vor, als wollte sie abheben wie …

Wumm! Es ist ein Gefühl, als hätte mir jemand gegen die Brust geschlagen. Natürlich nicht wirklich, aber der Schmerz ist so real, dass ich einen Schritt zurückweiche. Ich mache die Augen ganz fest zu und sehe nicht Prim - ich sehe Rue, das zwölfjährige Mädchen aus Distrikt 11, meine Verbündete in der Arena. Sie konnte fliegen wie ein Vogel, von Baum zu Baum, sie fand auf den zartesten Ästen Halt. Rue, die ich nicht gerettet habe. Die ich sterben ließ. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf dem Boden liegt, den Speer im Bauch …

Wen noch werde ich nicht vor der Rache des Kapitols retten können? Wer wird noch sterben, wenn ich Präsident Snow nicht zufriedenstelle?

Ich merke, dass Cinna versucht, mir einen Mantel anzuziehen, also hebe ich die Arme. Ich spüre, wie Pelz mich umhüllt. Er stammt von einem Tier, das ich noch nie gesehen habe. »Hermelin«, sagt Cinna, als ich über den weißen Ärmel streiche. Lederhandschuhe. Ein knallroter Schal. Etwas Pelziges bedeckt meine Ohren. »Du bringst Ohrenschützer wieder in Mode.«

Ich hasse Ohrenschützer, denke ich. Mit den Dingern kann man schlecht hören, und seit ich in der Arena bei einer Explosion auf einem Ohr taub geworden war, verabscheue ich sie noch mehr. Nach meinem Sieg hat das Kapitol mein Ohr wiederhergestellt, aber ich merke, dass ich es immer noch oft überprüfe.

Meine Mutter kommt herbeigelaufen, sie verbirgt etwas in den Händen. »Als Glücksbringer«, sagt sie.

Es ist die Brosche, die Madge mir gegeben hat, bevor ich in die Spiele gezogen bin. Ein fliegender Spotttölpel in einem goldenen Ring. Ich wollte die Brosche Rue schenken, doch sie hat sie nicht angenommen. Sie sagte, wegen der Brosche habe sie beschlossen, mir zu vertrauen. Cinna steckt sie am Knoten des Schals fest.

Effie Trinket kommt herbei und klatscht in die Hände. »Alle mal herhören! Wir machen gleich die erste Außenaufnahme -die Sieger begrüßen einander zu Beginn der wunderbaren Tour. Los, Katniss, strahlendes Lächeln bitte, du freust dich wahnsinnig, klar?« Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie mich zur Tür hinausschiebt.

Im ersten Moment kann ich nichts sehen, denn jetzt hat es richtig angefangen zu schneien. Dann erkenne ich Peeta, der aus der Haustür kommt. Ich habe die Anweisung von Präsident Snow im Kopf: »Überzeuge mich.« Und ich weiß, dass ich es tun muss.

Ich setze mein strahlendstes Lächeln auf und gehe auf Peeta zu. Dann renne ich los, als könnte ich keine Sekunde länger warten. Er fängt mich auf und wirbelt mich herum, rutscht plötzlich aus - er hat sein künstliches Bein noch nicht ganz in der Gewalt -, und wir fallen in den Schnee, ich auf ihn drauf, und dann küssen wir uns, zum ersten Mal seit Monaten. Es ist ein Kuss voller Pelz und Schnee und Lippenstift, doch darunter spüre ich die Ruhe, die Peeta immer ausstrahlt. Und ich weiß, dass ich nicht allein bin. Sosehr ich ihn auch verletzt habe, er wird mich vor den Kameras nicht bloßstellen. Wird mich nicht mit einem halbherzigen Kuss bestrafen. Er passt immer noch auf mich auf. Genau wie in der Arena. Bei dem Gedanken würde ich am liebsten weinen. Doch ich helfe ihm auf, hake mich mit meiner behandschuhten Hand bei ihm unter und ziehe ihn vergnügt mit.

Der Rest des Tages ist ein verschwommenes Durcheinander aus dem Weg zum Bahnhof, dem Abschied von allen, dem abfahrenden Zug, dem Abendessen mit dem alten Team - Peeta und ich, Effie und Haymitch, Cinna und Portia, Peetas Stylistin -, ein himmlisches Abendessen, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Und dann bin ich in einen Schlafanzug und einen riesigen Bademantel gehüllt, sitze in meinem vornehmen Abteil und warte darauf, dass die anderen schlafen gehen. Ich weiß, dass Haymitch noch stundenlang wach sein wird. Er schläft nicht gern, wenn es draußen dunkel ist.

Als im Zug alles ruhig scheint, ziehe ich meine Pantoffeln an und tapse zu seiner Tür. Ich muss mehrmals anklopfen, ehe er kommt, fluchend, als wäre er überzeugt, dass ich schlechte Neuigkeiten bringe.

»Was willst du?«, fragt er, und der Weindunst, den er verströmt, haut mich fast um.

»Ich muss mit dir reden«, flüstere ich.

»Jetzt?«, fragt er. Ich nicke. »Hoffentlich hast du einen guten Grund.« Er wartet, aber ich habe das Gefühl, dass jedes Wort, das wir in einem Zug des Kapitols sagen, aufgezeichnet wird. »Und?«, sagt er schroff.