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Tess lächelte und rollte die Augen. „Geh nach Hause, Ben. Ich ruf dich morgen an.“

3

Tess wurde schlagartig wach.

Mist. Für wie lange war sie eingedöst? Sie saß in ihrem Büro, ihre Wange ruhte auf Shivas Akte, die offen auf dem Schreibtisch lag. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie den unterernährten Tiger abgetastet und ihn zurück in seinen Käfig geführt hatte, um dann ihren Befund niederzuschreiben. Das war – sie sah auf ihre Armbanduhr – vor zweieinhalb Stunden gewesen. Es war kurz vor drei Uhr morgens. Um sieben fing sie schon wieder in der Klinik an.

Tess gähnte tief und streckte ihre verkrampften Arme.

Da hatte sie aber Glück gehabt – sie war aufgewacht, bevor Nora am Morgen zur Arbeit kam. Sonst hätte sie vielleicht was zu hören bekommen …

Irgendwo im hinteren Teil ihrer Klinik hörte sie ein lautes, polterndes Geräusch.

Was zum Teufel …?

War sie eben wegen eines ähnlichen Geräuschs so plötzlich aufgewacht?

Oh, Mist, natürlich. Ben. Er musste noch mal an der Klinik vorbeigefahren sein und das Licht gesehen haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass er auf einer nächtlichen Spritztour vorbeikam, um nach ihr zu sehen. Auf eine Gardinenpredigt zu ihren verrückten Arbeitszeiten oder ihrem störrischen Hang zur Unabhängigkeit hatte sie nun weiß Gott keine Lust.

Wieder hörte sie das Geräusch, ein rumpelndes Poltern, gefolgt von einem abrupten metallischen Klirren, als etwas von einem Regal geschlagen wurde.

Was bedeutete, dass jemand hinten im Lagerraum war.

Tess stand auf und ging ein paar zögerliche Schritte auf ihre Bürotür zu, lauschte auf das kleinste untypische Geräusch. Die frisch operierten Katzen und Hunde in ihren Käfigen hinter dem Empfangsbereich wurden unruhig. Einige jaulten, andere ließen tiefe, knurrende Warnlaute hören.

„Hallo?“, rief Tess in den leeren Raum. „Ist da jemand? Ben, bist du das? Nora?“

Niemand antwortete. Und die Geräusche, die sie vorher gehört hatte, waren nun auch verstummt.

Na großartig. Jetzt hatte sie einem Einbrecher ihre Anwesenheit verkündet. Brillant, Doktor Culver. Absolut spitzenmäßig.

Sie versuchte sich zu trösten, indem sie ihren Verstand zu Wort kommen ließ. Vielleicht war es nur ein Obdachloser, der einen Unterschlupf gesucht und es irgendwie geschafft hatte, von der hinteren Gasse hereinzukommen. Kein Einbrecher. Gar nichts Gefährliches.

Ach so? Und warum prickelten dann vor Angst ihre Nackenhaare?

Tess stopfte die Hände in die Taschen ihres Laborkittels und fühlte sich auf einmal sehr verwundbar. Sie spürte in der Tasche ihren Kugelschreiber, der gegen ihre Finger schlug. Und da war auch noch etwas anderes.

Stimmt ja. Die Spritze mit dem Betäubungsmittel, randvoll mit Anästhetika, genug, um ein Tier von zweihundert Kilo außer Gefecht zu setzen.

„Ist da jemand?“, fragte sie erneut und versuchte, ihre Stimme stark und ruhig klingen zu lassen. Am Empfangstresen blieb sie stehen und griff nach dem Telefon. Das verdammte Ding war nicht schnurlos – Billigware vom Ausverkauf –, und über den Tresen reichte der Hörer kaum bis an ihr Ohr. Tess ging um den hufeisenförmigen Tisch herum und sah nervös über die Schulter, als sie auf dem Ziffernblock die Nummer des Notrufs wählte. „Sie verschwinden besser sofort, weil ich nämlich gerade die Polizei anrufe.“

„Nein … bitte … haben Sie keine Angst …“

Die tiefe Stimme war so schwach, dass sie sie fast nicht gehört hätte. Aber sie hörte sie. So deutlich, als hätte jemand die Worte neben ihrem Kopf geflüstert. In ihrem Kopf, so seltsam das war.

Sie hörte ein trockenes Krächzen und ein heftiges, bellendes Husten, definitiv aus dem Lagerraum. Und wem auch immer diese Stimme gehörte, es klang, als litte er höllische Schmerzen, als sei er verletzt. Lebensgefährlich verletzt.

„Verdammt.“

Tess hielt den Atem an und legte den Hörer auf, bevor am anderen Ende jemand abnahm. Langsam ging sie auf den hinteren Teil der Klinik zu, nicht sicher, was sie dort vorfinden würde. Sie wünschte sich wirklich, gar nicht erst nachsehen zu müssen.

„Hallo? Was machen Sie da drin? Sind Sie verletzt?“

Sie redete mit dem Eindringling, während sie die Tür aufstieß und hineinging. Sie hörte mühsames Atmen, roch Rauch und den brackigen Gestank des Flusses. Und sie roch Blut. Eine Menge Blut.

Tess knipste das Licht an.

An der Decke sprangen summend die grellen Neonröhren an und beleuchteten einen unglaublichen Anblick: den riesenhaften Körper eines völlig durchnässten, schwer verletzten Mannes, der bei einem der Materialregale zusammengesunken war. Er sah aus wie ein schräger Grufti-Albtraum: schwarze Lederjacke, T-Shirt, Drillichhosen und geschnürte Lederstiefel mit dicken Profilsohlen. Sogar sein Haar war schwarz, die nassen Strähnen klebten ihm am Kopf und verdeckten sein abgewandtes Gesicht. Eine hässliche Spur aus Blut und Flusswasser zog sich von der Hintertür, die zur Gasse halb offen stand, bis zu der Stelle, wo der Mann in Tess’ Lagerraum zusammengebrochen war. Er hatte sich offensichtlich kriechend hereingeschleppt, wahrscheinlich konnte er nicht mehr gehen.

Wenn sie es nicht gewohnt gewesen wäre, die grauenvollen Folgen von Verkehrsunfällen, Schlägen und anderen körperlichen Traumata Tag für Tag an ihren Tierpatienten zu sehen, hätte der Anblick seiner Verletzungen Tess den Magen umgedreht.

Stattdessen schaltete sich nun ihr Verstand ein. Die aufsteigende Panik und der instinktive Drang, zu kämpfen oder zu fliehen, die sie eben noch im Empfangsraum gespürt hatte, wichen nun der Ärztin, zu der sie ausgebildet war. Jetzt war sie nur noch nüchtern, ruhig und besorgt.

„Was ist mit Ihnen passiert?“

Der Mann stöhnte und schüttelte leicht seinen dunklen Kopf, so als ob er ihr nicht davon erzählen wollte. Wahrscheinlich konnte er das auch gar nicht mehr.

„Sie haben überall Brand- und Fleischwunden. Mein Gott, das müssen ja Hunderte sein. Hatten Sie einen Unfall?“ Sie sah an ihm hinab, eine seiner Hände ruhte auf seinem Unterbauch, und durch die Finger sickerte Blut aus einer frischen, tiefen Wunde. „Sie bluten aus dem Bauch – und an den Beinen auch. Lieber Himmel, sind Sie angeschossen worden?“

„Brauche … Blut.“

Da hatte er vermutlich recht. Der Boden, auf dem er lag, war rutschig und dunkel von dem Blut, das er seit seiner Ankunft in der Klinik verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er auch schon vorher eine Menge Blut verloren. Fast jeder Zentimeter seiner unbedeckten Haut war voller Wunden – sein Gesicht und Hals, seine Hände. Wo Tess auch hinsah, überall sah sie blutende Schnitte und Quetschungen. Seine Wangen und sein Mund waren von gespenstischer Blässe.

„Sie brauchen einen Notarzt“, sagte sie zu ihm. Sie wollte ihn nicht beunruhigen, aber verdammt, er war in einem bedenklichen Zustand. „Entspannen Sie sich. Ich rufe Ihnen einen Krankenwagen.“

„Nein!“ Er bäumte sich aus seiner zusammengesunkenen Position auf, streckte in Panik die Hand nach ihr aus. „Kein Krankenhaus! Ich kann … kann da nicht hingehen … die werden … können mir nicht helfen.“

Trotz seines Protestes wandte sich Tess ab und wollte ins andere Zimmer gehen, zum Telefon. Doch da erinnerte sie sich an den gestohlenen Tiger, der es sich in einem ihrer Behandlungsräume bequem gemacht hatte. Wo der herkam, war dem Rettungsteam sicher schwer zu vermitteln, und erst recht – Gott behüte – der Polizei. Die Waffenhandlung hatte vermutlich schon Anzeige wegen Diebstahl erstattet, oder zumindest würde das bald geschehen, sobald sie dort in ein paar Stunden öffneten und das Verschwinden des Tigers bemerkten.

„Bitte“, stöhnte der riesenhafte Mann, der dabei war, ihr die ganze Klinik vollzubluten. „Keinen Notarzt.“