Die Standuhr mit den üppigen Rundungen war auf britische Zeit gestellt. Vor sechs Stunden hatte ich Hannah verlassen. Vor fünf Stunden Penelope. Vor vier Stunden Mr. Anderson. Vor zwei Stunden den Flughafen Luton. Und gerade einmal eine halbe Stunde war es her, daß Maxie mir befohlen hatte, mit meinen besten Sprachen auf Tauchstation zu gehen. Anton, mein guter Hirte, rüttelte mich an der Schulter. Während ich hinter ihm eine Wendeltreppe hinauftrottete, war mir zumute, als sollte ich gleich aus der reinigenden Hand des Abts meine gerechte Strafe empfangen.
»Und? Geht’s uns gut, Chef?« fragte Anton, während er die Tür zu einem Zimmer öffnete. »Kein Heimweh nach Weib und Herd?«
»Eigentlich nicht, Anton. Ich bin nur ein bißchen … nervös. Aber trotzdem guter Hoffnung.«
Diese Steilvorlage ließ er sich natürlich nicht entgehen. »Na, das ist ja fein. Wann ist es denn soweit?«
Ich machte mir klar, daß wir seit meinem fehlgeschlagenen Anruf bei Hannah noch kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Es konnte nicht schaden, ein bißchen auf ihn einzugehen. Die Ehefrau fiel mir wieder ein, mit der er angeblich seit acht Jahren nicht mehr gesprochen hatte, und ich lachte. »Sind Sie wirklich verheiratet, Anton?«
»Hin und wieder, Chef. Ab und zu.«
»Zwischen zwei Aufträgen, sozusagen?« riet ich.
»Sozusagen, Chef. Wie man’s nimmt. Wie’s eben so kommt.«
Ich probierte es noch einmal. »Und was machen Sie in Ihrer Freizeit? Wenn Sie nicht das hier machen, meine ich?«
»Alles mögliche. Bißchen Knast, wenn ich die Geduld dazu habe. Ich bin gern in Kapstadt. Nicht im Gefängnis, am Strand. Und zwischendurch steig ich auch schon mal den Weibern nach. Das Übliche eben. So, und jetzt sprechen wir brav unser Nachtgebet, weil wir doch morgen unseren großen Tag haben, und wenn Sie Scheiße bauen, ist die Kacke für uns alle am Dampfen, und das wär unserem Skipper ganz und gar nicht recht.«
»Und Sie sind sein Erster Offizier, ja?« fragte ich bewundernd. »Da haben Sie sicher ganz schön was zu tun.«
»Sagen wir mal so: Wer soviel Quecksilber im Leib hat wie er, der braucht schon einen, der ein bißchen auf ihn aufpaßt.«
»Und ich? Brauche ich auch wen, der auf mich aufpaßt, Anton?« Ich wußte selbst nicht, wo die Frage herkam.
»Ich sag Ihnen was, Chef: Bei der Körpergröße, bei diesen unwiderstehlichen Schlafzimmerwimpern und bei all den Telefonnummern, die wir im Ärmel haben, sind wir meiner bescheidenen Meinung nach ein ganzer Haufen Leute unter einem einzigen großen Helm, weswegen wir auch so viele Sprachen draufhaben.«
Nachdem ich leise die Tür hinter ihm geschlossen hatte, setzte ich mich aufs Bett. Eine wohlige Erschöpfung kam über mich. Ich zog die fremden Kleider aus und ließ mich in Hannahs wartende Arme sinken. Aber nicht, bevor ich nicht ein paarmal ausprobiert hatte, ob das Telefon auf dem Nachttisch nicht vielleicht doch angeschlossen war.
6
Als ich, nur in Unterwäsche gekleidet, zur üblichen frühen Stunde mit einem Ruck aus dem Schlaf fuhr, drehte ich mich aus alter Gewohnheit auf die rechte Seite, um mich in der »Löffelchenposition« an Penelope zu schmiegen, doch wie so oft mußte ich feststellen, daß sie von einem nächtlichen Einsatz noch nicht zurück war. Beim zweiten Aufwachen sah ich schon klarer, nämlich, daß ich im Bett eines verstorbenen weißen Verwandten lag, dessen bärtige Züge aus einem viktorianischen Zierrahmen von der Wand über dem Marmorkamin grimmig auf mich herunterstarrten. Doch beim dritten Mal hatte ich zu meiner Freude Hannah im Arm, und so konnte ich sie, aller Geheimhaltungspflicht zum Trotz, darüber informieren, daß ich bei einer geheimen Mission mitwirkte, die dem Kongo die Demokratie bringen würde, und nur deshalb nicht bei ihr angerufen hatte.
Erst im nächsten Anlauf sah ich mich imstande, im Schein der durch den Vorhang lugenden Morgensonne mein komfortables Zimmer zu inspizieren, in dem sich das Traditionelle harmonisch mit dem Modernen verband. Es gab einen Frisiertisch mit einer altmodischen elektrischen Schreibmaschine samt A4-Papier, es gab eine Hosenpresse, es gab eine Kommode, einen Bauernschrank, einen Shaker-Schaukelstuhl, und es gab ein Teetablett mit einem Wasserkocher aus Plastik.
Auch das Bad bot keinen Grund zur Klage: beheizter Handtuchhalter, Bademantel, Dusche, Shampoo, Badeöl, Feuchttücher, alles, was das Herz begehrte. Aber keinerlei Hinweise auf meinen Aufenthaltsort. Die Toilettenartikel waren von internationalen Herstellern, ich fand keinen Brandschutzplan, keine Wäschelisten, keine Streichholzbriefchen, keine fremd klingende Willkommensnachricht der Geschäftsführung mit einer vorgedruckten, unlesbaren Unterschrift und auch keine Bibel im Nachttisch, ganz gleich in welcher Sprache.
Nach dem Duschen stellte ich mich im Bademantel an das Fenster mit seinen schweren Granitlaibungen und vertiefte mich in die Aussicht. Das erste, was ich sah, war eine honigfarbene Schleiereule mit ausgebreiteten Flügeln, bis auf die äußersten Spitzen der Federn vollkommen reglos. Ein erfreulicher Anblick, aber da Vögel kein Nationenkennzeichen haben, kein sehr hilfreicher. Links und rechts von mir erhoben sich baumlose Hänge mit olivgrünen Weiden, dazwischen glitzerte silbern das Meer, an dessen fernem Horizont ich den Umriß eines Containerschiffes mit unbekanntem Ziel voraus ausmachte, und näher am Ufer eine Schar möwenumkreister kleiner Fischerboote, aber so angestrengt ich auch spähte, ich konnte an ihnen keine Flagge erkennen. Eine Straße war nirgends in Sicht, nur der kurvenreiche Feldweg, über den wir am Vorabend hergerumpelt waren. Auch von unserem Landeplatz war nichts zu sehen, nicht einmal ein Windsack oder eine Antenne. Aus dem Stand der Sonne schloß ich, daß ich nach Norden blickte, und aus dem Laub der jungen Bäume, die am Wasser wuchsen, daß der Wind vorherrschend von Westen wehte. Auf einer grasigen Anhöhe näher beim Haus stand ein Pavillon oder Gartenhäuschen im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, östlich davon die Ruine eines Kirchleins und ein Friedhof, in dessen einer Ecke etwas aufragte, was wie ein keltisches Kreuz aussah, aber genausogut ein Kriegerdenkmal oder das Monument eines verblichenen Würdenträgers hätte sein können.
Als ich wieder zum Pavillon schaute, erblickte ich zu meiner Überraschung einen Mann, der auf einer lang ausgefahrenen Leiter stand. Eben war er noch nicht da gewesen, er mußte wohl hinter einer Säule hervorgekommen sein. Neben ihm auf dem Boden stand ein schwarzer Kasten, ähnlich denen, die mit uns im Flugzeug gewesen waren. Sein Inhalt blieb mir verborgen, da der Deckel zu mir hin aufgeklappt war. Ob der Mann etwas reparierte? Und wenn ja, was? Und warum zu dieser frühen Stunde?
Einmal neugierig geworden, entdeckte ich noch zwei weitere Männer, die ebenfalls Rätselhaftes trieben: Einer lag vor einem Wasser- oder Stromanschluß auf den Knien, der andere erklomm gerade einen Telegraphenmast, wofür er offenbar weder Seil noch Leiter benötigte – ein Kunststück, durch das er ganz nebenbei Penelopes Privattrainer, der sich für Tarzan persönlich hält, mühelos in den ihm gebührenden Schatten stellte. Und diesen zweiten Mann, das wurde mir Sekunden später klar, kannte ich, nicht nur vom Sehen, sondern mit Namen. Er war noch nicht ganz oben angekommen, da hatte ich ihn bereits als meinen gesprächigen neuen Waliser Freund identifiziert, Spider, den Proviantmeister des Teams und Chatroom-Veteranen.
Im Nu stand mein Plan fest. Unter dem Vorwand, vor dem Frühstück einen kleinen Spaziergang machen zu wollen, würde ich Spider in ein Gespräch verwickeln und mir anschließend auf dem Friedhof die Inschriften der Grabsteine ansehen, um die Landessprache und unseren Aufenthaltsort zu bestimmen. Ich zog meine graue Sträflingshose und das Tweedsakko an, nahm die zu engen Schuhe in die Hand und schlich mich über die Haupttreppe nach unten zur Haustür. Die aber war, wie ich sogleich feststellen mußte, abgeschlossen, genau wie alle anderen Türen und Fenster, bei denen ich mein Glück versuchte. Doch damit nicht genug: Durch eines der Fenster entdeckte ich nicht weniger als drei ausgebeulte Anoraks, die rings um das Haus Wache standen.