Niemand rührt sich, mit Ausnahme des zappeligen Haj, der die Augen verdreht und listig von einem seiner ungleichen Kameraden zum anderen linst.
»Was zögert ihr, meine Freunde? Keine falsche Scham! Euer hübsches Flugzeug wartet gleich dort draußen. Es hat zwei zuverlässige Triebwerke und wird euch zurück nach Dänemark fliegen, ohne daß ihr auch nur einen Cent dafür zahlen müßt. Fort mit euch, macht, daß ihr heimkommt, und Schwamm über die Sache!«
Plötzlich lächelt er, ein strahlendes, urafrikanisches Fünf-Sterne-Lächeln, so breit, daß es sein EinsteinGesicht regelrecht in zwei Hälften spaltet, und unsere Delegierten grinsen und lachen erleichtert mit, Haj am lautesten. Père André hatte genau den gleichen Trick auf Lager: den Druck wegnehmen, wenn die Gemeinde am wenigsten damit rechnet, so daß man dankbar aufatmet und sein Freund sein will. Sogar Maxie lächelt. Desgleichen Philip, der Delphin und Tabizi.
»Wenn ihr dagegen aus Kivu seid, egal, ob aus dem Norden oder dem Süden oder der Mitte« – jetzt plötzlich entbietet die mächtige Stimme uns ein großzügiges Willkommen –, »wenn ihr wahre, gottesfürchtige Kivuter seid, wenn ihr den Kongo liebt und als echte kongolesische Patrioten für eine effiziente, unbestechliche Zentralregierung in Kinshasa seid – wenn es euer Wunsch ist, die ruandischen Schlächter und Ausbeuter ein für allemal über ihre Grenze zurückzutreiben –, dann bleibt bitte da, wo ihr seid. Dann ist das hier die richtige Insel. Dann bleibt und redet mit mir. Und miteinander. Dann laßt uns unser gemeinsames Ziel definieren, liebe Brüder, und zusammen darüber beraten, wie wir es am besten erreichen. Laßt uns den Pfad der Mitte beschreiten, den Pfad der Einheit und Versöhnung und Gleichberechtigung im Namen Gottes.«
Er hält inne, wägt ab, besinnt sich auf etwas, hebt neu an.
»Ah, aber dieser Mwangaza ist ein gefährlicher Separatist, hat man euch gesagt. Er ist größenwahnsinnig. Er will unseren geliebten Kongo spalten und die Brocken den Schakalen jenseits der Grenze zum Fraß vorwerfen. Liebe Brüder, ich bin unserer Hauptstadt Kinshasa ein loyalerer Freund, als Kinshasa sich selbst ist!« Große Worte, aber achtgegeben, es kommen noch größere. »Ich bin loyaler als Kinshasas unterbezahlte Soldaten, die unsere Städte und Dörfer plündern und unsere Frauen schänden! Ich bin so loyal, daß ich endlich Kinshasas Soll erfüllen will! Ich will uns den Frieden bringen, nicht den Krieg! Ich will uns Manna bringen, keine Hungersnot! Ich will uns Schulen, Straßen und Krankenhäuser bauen, mit einer Regierung, die für Anstand steht, nicht für Ruin und Korruption! Ich will Kinshasas sämtliche Versprechen halten. Ich will sogar Kinshasa selbst halten!«
* * *
Er gibt uns Hoffnung, Salvo.
Sie küßt meine Augenlider, sie gibt mir Hoffnung. Meine Hände liegen um ihren schön gewölbten Kopf.
Begreifst du nicht, was Hoffnung für die Menschen im Ostkongo bedeutet?
Ich liebe dich.
Diese armen geplagten Seelen im Kongo sind der Schmerzen so müde, daß sie nicht mehr an eine Heilung glauben. Wenn der Mwangaza ihnen neue Hoffnung spenden kann, werden alle für ihn sein. Wenn nicht, wird sich weiter ein Krieg an den anderen reihen, und er wird nichts sein als ein falscher Prophet mehr auf ihrem Pfad zur Hölle.
Dann laß uns beten, daß seine Botschaft bei den Wählern im Kongo auch ankommt, sage ich fromm.
Was für ein Romantiker du bist, Salvo. Solange die jetzige Regierung im Amt ist, können Wahlen gar nicht anders vor sich gehen ab stümperhaft und korrupt. Die Leute, die nicht gekauft sind, werden nach ihrer Stammeszugehörigkeit wählen, die Ergebnisse werden verfälscht werden, und die Spannungen nehmen noch zu. Erst brauchen wir Stabilität und Redlichkeit. Dann können wir Wahlen abhalten. Wenn du dem Mwangaza zugehört hättest, wüßtest du das.
Ich höre lieber dir zu.
Ihre Lippen haben meine Lider verlassen und suchen nach reichhaltigerer Kost.
Und du weißt ja sicher, daß der Unhold einen Zauberstock bei sich zu tragen pflegte, der so schwer war, daß kein Sterblicher ihn heben konnte außer dem Unhold selbst?
Nein, Hannah; dieses historische Kleinod war mir bis jetzt entgangen. Sie spricht von dem erbärmlichen, keineswegs seligen General Mobutu, höchster Herrscher und Zerstörer Zaires und bislang einzig auf der Welt als Gegenstand von Hannahs Haß.
Nun, der Mwangaza hat auch einen Stock. Er begleitet ihn überallhin, genau wie der Stock des Unholds, aber er ist aus einem Holz geschnitzt, das um seiner Leichtigkeit willen ausgewählt wurde. Jeder, der an den Pfad der Mitte glaubt, darf ihn hochheben und fühlen, wie leicht es ist, diesen Weg zu gehen. Und wenn der Mwangaza stirbt, weißt du, was dann mit seinem Zauberstock passiert?
Der Mwangaza humpelt daran in den Himmel, vermute ich schläfrig, mein Kopf auf ihrem Bauch.
Nicht witzeln, Salvo, bitte. Er kommt in ein wunderschönes neues Museum der Einheit, das an den Ufern des Kivusees erbaut werden soll, wo alle ihn ansehen können. Er wird an den Tag erinnern, an dem Kivu der Stolz des ganzen Kongo wurde, einig und frei.
* * *
Und hier ist er. Der Stock. Der Zauberstock des Mwangaza. Er liegt vor uns auf dem grünen Tuch, wie eine Miniaturausgabe des Amtsstabs aus dem Unterhaus. Die Delegierten haben die magischen Zeichen darauf begutachtet und ihn in der Hand gewogen. Für den alten Franco ist er ein bedeutsamer Gegenstand – aber ist es Bedeutsamkeit der richtigen Art? Für Haj ist er eine Ware. Woraus ist er gemacht? Funktioniert er? Bei uns kriegen Sie ihn billiger. Dieudonnés Ausdruck ist weniger leicht zu deuten. Wird er meinem Volk Frieden und Gleichheit bringen? Werden unsere Propheten seine Kräfte gutheißen? Wenn wir um seinetwillen in den Krieg ziehen, beschützt er uns dann vor den Francos dieser Welt?
Maxie hat den Stuhl schräggestellt, um die Beine ausstrecken zu können. Seine Augen sind geschlossen, der Kopf zurückgebogen, die Hände im Nacken gefaltet wie bei einem Sportler, der auf seinen Einsatz wartet. Mein weißgelockter Retter Philip lauscht mit dem ruhigen Lächeln eines Impresarios. Er hat das zeitlose Gesicht mancher englischer Schauspieler, habe ich bei mir beschlossen. Er könnte jede Rolle zwischen fünfunddreißig und sechzig spielen, und das Publikum nähme sie ihm ab. Wenn Tabizi und der Delphin meiner Übersetzung folgen, lassen sie es sich nicht anmerken. Sie kennen die Reden des Mwangaza, wie ich die von André kannte. Dagegen habe ich eine unerwartete Zuhörerschaft in den drei Delegierten gefunden. Nach der flammenden Tirade des Mwangaza auf Swahili kommt ihnen dieses unemotionalere französische Echo für eine zweite Anhörung ganz gelegen. Haj der Studierte lauscht kritisch, Dieudonné gedankenvoll, gleichsam nickend bei jedem der kostbaren Worte. Und Franco lauscht mit geballten Fäusten, bereit, es mit jedem aufzunehmen, der ihm widerspricht.
Der Mwangaza spielt nicht mehr den Demagogen, jetzt kehrt er den Volkswirt hervor. Ich schalte beim Dolmetschen ebenfalls einen Gang herunter. Kivu wird ausgeraubt, verkündet er streng. Er weiß, wieviel Kivu wert ist und um wieviel es geprellt wird. Er hat sämtliche Zahlen parat und wartet, während ich sie auf meinem Block mitschreibe. Ich lächle ihm diskret meinen Dank zu. Er nickt und rattert die Namen der von Ruanda kontrollierten Bergbaugesellschaften herunter, die sich an Kivus Bodenschätzen bedienen. Da die meisten Namen französisch sind, übersetze ich sie nicht mit.
»Warum lassen wir das mit uns machen?« will er zornig wissen, und seine Stimme schwillt wieder an. »Warum schauen wir tatenlos zu, wie unsere Feinde sich an unseren Bodenschätzen eine goldene Nase verdienen, wenn wir sie doch am liebsten hochkant rausschmeißen möchten?«
Er hat eine Landkarte von Kivu. Der Delphin hat sie an der Tafel aufgespannt, und der Mwangaza steht daneben und drischt mit seinem Zauberstock auf sie ein, während seine Wortsalven dahinknattern, immer dicht gefolgt von den meinen, nur daß sie bei mir leiser daherkommen, eine gemäßigtere, leicht abgemilderte Version – was wiederum mich in seinen Augen, wenn schon nicht zum Resistance-Mitglied, so doch zum Zweifler stempelt, der ins Boot geholt werden muß.