Er hört auf zu sprechen, ich auch. Er starrt mich direkt an. Beim Starren zieht er auf bewährte Medizinmänner-Art die Augenmuskeln zusammen, wodurch sein Blick noch visionärer und eindringlicher wirkt. Jetzt sind es nicht mehr meine Augen, die er im Visier hat, es ist meine Haut. Er studiert mein Gesicht, dann, falls da ein Unterschied festzustellen ist, meine Hände: mittel- bis hellbraun.
»Monsieur Interprète!«
»Mwangaza.«
»Kommen Sie vor, mein Junge!«
Für ein paar Schläge mit dem Rohrstock? Damit ich vor versammelter Klasse meine Sünden beichte? Von allen beobachtet, gehe ich den Tisch entlang, bis ich schließlich vor ihm stehe – nur um festzustellen, daß ich ihn um einen ganzen Kopf überrage.
»Und was sind Sie, mein Junge?« fragt er in scherzhaftem Ton, wobei sein Finger erst auf Maxie und Philip zeigt, dann auf die drei schwarzen Delegierten. »Sind Sie einer von uns oder einer von denen?«
Derart in die Enge getrieben, schwinge ich mich zu seinen rhetorischen Höhen auf. »Mwangaza, ich bin einer von allen beiden!« rufe ich ihm auf Swahili entgegen.
Er lacht schallend auf und übersetzt meine Worte an meiner Statt ins Französische. Beifall wird an beiden Enden des Tisches laut, aber die dröhnende Stimme des Mwangaza übertönt ihn mühelos.
»Meine Freunde. Dieser prächtige junge Bursche hier ist ein Symbol für unseren Pfad der Mitte! Nehmen wir uns seine Allumfassendheit zum Vorbild! Nein, nein, nein. Bleiben Sie da, mein Junge, bleiben Sie bitte noch einen Moment hier vorn.«
Er meint es als Ehre, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Er nennt mich einen prächtigen jungen Burschen und läßt mich neben ihm stehen, während er mit seinem Zauberstock auf der Landkarte herumprügelt und den Rohstoffreichtum des Ostkongo besingt, und ich darf die Hände hinterm Rücken verschränken und die Worte meines Lehrers ohne die Hilfe meines Stenoblocks dolmetschen, womit ich den Versammelten ganz nebenbei eine Kostprobe meiner Gedächtniskraft liefere.
»Hier in Mwenga: Gold, meine Freunde. Hier in Kamituga: Gold, Uran, Kassiterit, Coltan und – aber nicht weitersagen – Diamanten. Hier in Kabambare: Gold, Kassiterit und Coltan.« Seine Wiederholungen sind beabsichtigt. »Hier Coltan, Kassiterit, und hier« – der Stock hebt sich und fährt etwas unbestimmt in Richtung des Albertsees – »Öl, meine Freunde, unerschlossene und vielleicht unerschöpfliche Mengen unschätzbaren Öls. Und soll ich euch noch etwas verraten? Wir haben ein kleines Wunder hier, von dem kaum jemand weiß, obwohl sich alle die Finger danach abschlecken. Es ist so rar, daß Diamanten dagegen so dicht gesät sind wie Kiesel am Strand. Es nennt sich Kamitugait, meine Freunde, und es besteht zu 56,71 Prozent aus Uran! Nun, was kann irgend jemand auf Gottes Erdboden damit wohl wollen, frage ich mich?«
Er hält inne, während wissendes Gelächter aufbrandet und verebbt.
»Aber nun sagt, wer profitiert von all diesen Reichtümern?«
Wieder wartet er, zu mir emporlächelnd, während ich dieselbe Frage stelle, also lächle ich als Lehrers neuer Liebling auch.
»O gewiß, die Profitgeier in Kinshasa werden ihren Anteil kassieren! Die werden sich ihre dreißig ruandischen Silberlinge nicht entgehen lassen, o nein! Aber sie werden sie nicht in Schulen und Straßen und Krankenhäuser für den Ostkongo stecken, so viel steht fest. In den vornehmen Geschäften von Johannesburg und Nairobi und Kapstadt, da werden diese Silberlinge schon eher ausgegeben. Aber nicht hier in Kivu, o nein!«
Erneute Pause. Und das Lächeln diesmal nicht für mich, sondern für die Delegierten. Dann die nächste Frage.
»Macht jede Lastwagenladung Coltan, die über unsere Grenzen rollt, die Menschen in Kivu reicher?«
Der Zauberstock weist unerbittlich über den Kivu-See nach Osten.
»Wenn das Öl nach Uganda zu fließen beginnt, fließt dann Geld zu den Menschen in Kivu? Meine Freunde, mit jedem Tag, an dem das Öl wegfließt, werden sie ärmer. Dabei sind es unsere Minen, meine Freunde, unser Öl, unsere Schätze, uns von Gott gegeben, auf daß wir sie in seinem Namen pflegen und nutzen! Und es sind keine Brunnen, die von jedem Regen neu gefüllt werden. Was die Diebe uns heute nehmen, wird weder morgen nachwachsen noch an sonst einem Tag.«
Er schüttelt den Kopf, und murmelt noch mehrmals »O nein« ob solch gravierender Ungerechtigkeit.
»Und wer, so frage ich mich, verkauft diese gestohlenen Waren mit so enormem Gewinn, von dem nicht ein Cent an seine rechtmäßigen Besitzer zurückfließt? Die Antwort, meine Freunde, kennt jeder von euch! Die Schieber in Ruanda sind es! Die Geschäftemacher in Uganda und Burundi! Unsere korrupte Regierung ist es, diese ganzen Maulhelden und Profitgeier in Kinshasa, die unser Geburtsrecht an die Ausländer verhökern und uns noch Steuern abknöpfen für ihre Mühe! Danke, mein Junge. Gute Arbeit, Monsieur. Sie dürfen sich setzen.«
Ich setze mich und denke über Coltan nach – nicht hauptamtlich natürlich, der Mwangaza redet schließlich weiter, und ich somit auch – eher in der Art eines Nachrichtentickers, der am unteren Rand des Fernsehschirms durchläuft, während oben die eigentliche Handlung ihren Gang nimmt. Was ist Coltan? Es ist eine ungemein kostbare Substanz, die früher ausschließlich im Ostkongo gewonnen wurde, man frage nur meine im Rohstoffhandel tätigen Klienten. Wer die Dummheit begeht, sein Handy auseinanderzunehmen, der findet unter den Innereien ein allentscheidendes Körnchen davon. Die Vereinigten Staaten hatten jahrzehntelang strategische Coltanvorräte auf Halde liegen, wie meine Klienten auf schmerzhafte Weise erfahren mußten, als das Pentagon es tonnenweise auf den Weltmarkt warf.
Warum hat Coltan in meinem Kopf außerdem noch einen Ehrenplatz inne? Schnitt zurück zu Weihnachten 2000. Bei der Play Station 2, dem unverzichtbaren elektronischen Spielzeug für jedes reiche britische Gör, treten unerhörte Lieferengpässe auf. Mittelschichtseltern sind dem Nervenzusammenbruch nahe, und Penelope auf der Titelseite ihrer großen Zeitung ebenfalls: Wir klagen an: Schande über die Weihnachtsverderber! Doch ihr Zorn richtet sich an die falsche Adresse. Der Engpaß ist nicht durch die Inkompetenz der Hersteller verschuldet, sondern durch eine Welle von Mord und Totschlag, die über den Ostkongo hereingebrochen ist und als eine ihrer Nebenwirkungen den Nachschub an Coltan kurzfristig zum Erliegen gebracht hat.
Wußtest du, daß der Mwangaza Professor für kongolesische Geschichte ist, Salvo? Unsere Geschichte. Er kennt unseren Alptraum bis ins kleinste Detail. Er weiß, wer durch wen umgebracht worden ist, in welcher Anzahl, an welchem Tag, und er hat keine Angst vor der Wahrheit wie so viele von unseren Kleinmütigen.
Und ich bin einer von den Kleinmütigen, aber an diesem nackten grünen Tisch, an dem ich sitze, kann ich mich nirgends verstecken. In welche Gefilde sich der Mwangaza auch vorwagt, ich muß ihm folgen, ohne auch nur eines seiner Worte ausblenden zu können. Noch vor zwei Minuten hat er über Produktionszahlen gesprochen. Jetzt redet er über Völkermord, und auch hier hat er seine Zahlen parat: die der dem Erdboden gleichgemachten Dörfer, die der gekreuzigten oder in Stücke gehackten Dorfbewohner, der auf Verdacht verbrannten Hexen, der Massenvergewaltigungen – das ganze endlose Hin und Her des mörderischen Gemetzels im Ostkongo, das von außen noch geschürt wird, während die internationale Gemeinschaft zetert und ich den Fernseher ausschalte, falls Penelope mir nicht schon zuvorgekommen ist. Und das Sterben geht weiter, jetzt in diesem Moment, während der Mwangaza spricht und ich übersetze. Mit jedem Monat, der verstreicht, sterben achtunddreißigtausend Kongolesen durch die Verheerungen dieser vergessenen Kriege: