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»Eintausendzweihundert Tote pro Tag, meine Freunde, sieben Tage die Woche. Heute genauso wie morgen und übermorgen und an jedem Tag, der da kommt.«

Ich werfe einen Blick zu meinen Delegierten hinüber. Sie haben Armesündermienen aufgesetzt. Vielleicht sind ausnahmsweise sie und nicht ich es, die auf Autopilot geschaltet haben. Wer vermag zu sagen, was sie denken, so sie sich überhaupt zum Denken bequemen? Da sitzen sie: drei Afrikaner in der Mittagshitze am Straßenrand, und niemand auf dieser Welt, möglicherweise nicht einmal sie selbst, weiß, was in ihren Köpfen vorgeht. Aber warum behelligt uns der Mwangaza mit solchem Zeug, wo doch die Zeit so knapp ist? Um uns fertigzumachen? Keineswegs. Mut machen will er uns!

»Darum haben wir ein Anrecht, meine Freunde! Wir haben doppelt und dreifach Anspruch! Keine andere Nation mußte solche Heimsuchungen erdulden wie unser geliebtes Kivu. Keine andere Nation braucht die Wiedergeburt so dringend! Keine andere Nation hat ein größeres Recht, ihren Reichtum mit beiden Händen zu ergreifen und ihn seinen Leidenden und Schwachen zu Füßen zu legen und zu sagen: ›Das hier gehört nicht mehr den anderen. Das hier, mein armes Volk – nous misérables de Kivu! –, gehört uns!‹«

Seine gebieterische Stimme könnte die Royal Albert Hall ausfüllen, aber die Frage in unser aller Herzen ist klar genug: Wenn Kivus Reichtümer in die falschen Hände gefallen sind und die Ungerechtigkeiten der Geschichte uns einen Anspruch darauf verleihen, sie uns zurückzuholen, und wenn Kinshasa ein geknicktes Rohr ist und alles aus Kivu ohnehin nach Osten exportiert wird – was bitte schön gedenken wir zu tun?

»Seht sie euch an, meine Freunde, die großen Politiker und Beschützer unserer Nation, und was erblickt ihr? Neue Wege? O ja – ganz neue Wege, unbedingt. Noch nie beschrittene Wege, genauer gesagt. Und die passenden neuen Parteien gleich dazu. Mit höchst poetischen Namen« – des noms très poétiques. » Es gibt so viel neue Demokratie in dieser Hurenstadt Kinshasa« – cette ville de putains! –, »daß ich mich in meinen alten Schuhen schon kaum mehr auf den Boulevard des 30. Juni traue! So viele neue Rednertribünen, auf eure Kosten aus edelsten Hölzern erbaut. So viele prächtig gedruckte zwanzigseitige Manifeste, die bis spätestens Mitternacht nächste Woche Frieden, Wohlstand, medizinische Versorgung und Bildung für alle versprechen. So viele neue Gesetze gegen die Korruption, daß man sich fragt, wer wohl bestochen worden ist, sie alle zu entwerfen.«

Das Gelächter wird angestimmt von dem glatthäutigen Delphin und dem narbengesichtigen Tabizi, und Philip und Maxie fallen ein. Der Lichtbringer wartet streng, bis es wieder verstummt ist. Worauf will er hinaus? Weiß er es selbst? Bei Père André gab es nie einen festen Kurs. Der Mwangaza, auch wenn es mir nur langsam dämmert, steuert genau nach Plan.

»Aber, meine Freunde, seht sie euch noch einmal näher an, unsere nagelneuen Politiker. Biegt die Krempen ihrer Hüte hoch. Laßt ein paar Strahlen von unserer guten afrikanischen Sonne in ihre HunderttausendDollar-Mercedeslimousinen scheinen, und sagt mir,

was ihr seht. Neue Gesichter voller Optimismus? Aufgeweckte junge Hochschulabsolventen, die darauf brennen, ihre Kräfte in den Dienst unserer Republik zu stellen? O nein, meine Freunde, weit gefehlt. Ihr seht genau dieselben altbekannten Gesichter derselben altbekannten Gauner wie zuvor!«

Was hat Kinshasa jemals für Kivu getan, will er wissen. Antwort: nichts. Wo bleibt der Frieden, den Kinshasa predigt, der Wohlstand, die Harmonie? Wo die allumfassende Liebe zu Land, Nachbarn, Gemeinschaft? Er ist durch ganz Kivu gereist, vom Norden bis in den Süden, und hat nicht die kleinste Spur davon entdecken können. Er hat dem Wehklagen der Menschen gelauscht: Ja, wir wollen den Pfad der Mitte, Mwangaza! Wir beten dafür! Wir singen dafür! Wir tanzen dafür! Aber wie, o wie, sollen wir ihn erlangen? Ja, wie? Er ahmt ihr jammervolles Fragen nach. Ich ahme den Mwangaza nach. »Wer wird uns verteidigen, wenn unsere Feinde ihre Truppen gegen uns aussenden, Mwangaza? Du bist ein Mann des Friedens, Mwangaza! Du bist nicht mehr der große Krieger, der du einmal warst. Wer schafft Ordnung bei uns und kämpft an unserer Seite und hilft uns, unsere Kräfte zu vereinen?«

Bin ich wirklich der letzte im Raum, der begreift, daß die Antwort auf diese inniglichen Gebete sich am Kopfende des Tisches lümmelt, die Füße in den abgestoßenen Wüstenstiefeln lässig vor sich ausgestreckt? Anscheinend ja, denn die nächsten Worte des Mwangaza reißen mich so abrupt aus meinen Träumen, daß Haj, der alte Komiker, sich mit großer Geste zu mir umdreht und Stielaugen macht.

»Kein Name, meine Freunde?« schleudert der Mwangaza uns entrüstet entgegen. »Dieses seltsame Syndikat, das uns heute hierhergeschleppt hat, hat keinen Namen? Oh, das ist schlimm! Wo mag er ihnen hingeraten sein? Das ist alles höchst verdächtig und mysteriös! Vielleicht sollten wir alle unsere Brillen aufsetzen und ihnen beim Suchen helfen! Warum in aller Welt sollten ehrbare Leute ihren Namen geheimhalten? Was haben sie zu verbergen? Warum rücken sie nicht einfach mit der Sprache heraus und sagen, wer sie sind und was sie wollen?«

Tief ansetzen, Père André. Tief, und mit langem Atem. Der Spannungsbogen muß tragen. Aber der Mwangaza ist ein alter Hase.

»Ja, meine lieben Freunde«, gesteht er in einem müden Ton, bei dem man ihm am liebsten über die Kreuzung helfen möchte. »Ich habe lange und intensiv mit diesen namenlosen Herren gesprochen, das könnt ihr mir glauben.« Er zeigt auf Philip, ohne in seine Richtung zu sehen. »O ja. Wir haben viele zähe Verhandlungen geführt. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, möchte ich sagen. Harte Verhandlungen, o ja, und so muß es auch sein. Sagen Sie uns, was Sie wollen, Mwangaza, haben die Namenlosen zu mir gesagt. Sagen Sie es uns bitte ohne Schnörkel oder Ausflüchte. Und dann sagen wir Ihnen, was wir wollen. Und dann wird sich zeigen, ob wir ins Geschäft kommen oder ob wir uns die Hand geben und sagen, tut uns leid und auf Wiedersehen, wie es bei Geschäftsverhandlungen üblich ist. Also habe ich es ihnen mit gleicher Münze vergolten« – er spielt geistesabwesend an seinem goldenen Sklavenhalsband herum, eine kleine Erinnerung, daß er nicht käuflich ist –, ›»Meine Herren, was ich will, ist hinlänglich bekannt. Frieden, Wohlstand und Einheit für ganz Kivu. Freie Wahlen, aber erst, wenn Stabilität hergestellt ist. Doch der Frieden, auch das ist hinlänglich bekannt, kommt nicht von allein, und die Freiheit auch nicht. Der Frieden hat Feinde, der Frieden muß mit dem Schwert erstritten werden. Damit der Frieden Wirklichkeit wird, müssen wir unsere Kräfte bündeln, unsere Minen und Städte zurückerobern, die Eindringlinge vertreiben und eine vorläufige Regierung von ganz Kivu ausrufen, die den Grundstein für einen echten, dauerhaften demokratischen Sozialstaat legt. Aber wie sollen wir das aus eigener Kraft erreichen, meine Herren? Wir sind gelähmt von innerem Zwist. Unsere Nachbarn sind stärker als wir, und gerissener.‹«

Drohend stiert er zu Franco und Dieudonné hin, wie um dieses ungleiche Paar durch seine Blicke zum Schulterschluß zu zwingen, während er seine Geschäftsverhandlungen mit den namenlosen Herren fortsetzt.

»›Damit unser Vorhaben gelingen kann, brauchen wir Ihre Logistik, meine Herren. Wir brauchen Ihre Ausrüstung und Ihr Know-how. Ohne diese Dinge wird der Frieden für mein geliebtes Kivu für immer ein Wunschtraum bleiben.‹ So habe ich zu den Namenlosen gesprochen. Genau dies waren meine Worte. Und die Namenlosen, sie haben mir aufmerksam zugehört, wie es sich geziemt. Und schließlich antwortete einer für alle, und ich darf euch bis zum heutigen Tag seinen Namen nicht nennen, aber ich versichere euch, er sitzt nicht in diesem Raum, obwohl er ein bewährter Freund unserer Nation ist. Und dies sind seine Worte: ›Was Sie vorschlagen, ist schön und gut, Mwangaza. Wir mögen Geschäftsleute sein, aber wir haben auch eine Seele. Das Risiko ist groß, die Kosten hoch. Wenn wir Ihr Vorhaben unterstützen, wer garantiert uns, daß wir nicht mit leeren Taschen und blutigen Nasen nach Hause kehren?‹ Und wir auf unserer Seite erwidern: ›Wer unseren großen Kampf mit uns kämpft, der wird auch am Siegespreis teilhaben.‹«