Er bricht ab. Sein Keuchen geht so heftig, daß es mich an Jean-Pierre im Krankenhaus erinnert, nur ohne die Schläuche. Auf der vordersten Kante meines Schleudersitzes warte ich auf Francos Entgegnung, muß mir aber nur wieder ohnmächtig Hajs Reden anhören.
Haj: Verbündete wobei, verdammt noch mal? Um was zu erreichen? Ein vereintes Kivu? Nord und Süd? Meine Freunde. Laßt uns unsere Bodenschätze wieder in Besitz nehmen, auf daß wir Kontrolle über unser Schicksal erlangen! Hmpf hmpf. Unsere Bodenschätze sind in festen Händen, du alter Idiot! Und zwar in den Händen von ruandischen Irren, die bis an die Zähne bewaffnet sind und in ihrer Freizeit unsere Frauen vergewaltigen! Diese Interahamwe-Typen sind da oben so fest etabliert, daß die Blauhelme sie um Überflugrechte bitten müssen!
Dieudonné: (Verächtliches Lachen) Die Blauhelme? Wenn wir darauf warten, daß die Blauhelme uns Frieden bringen, können wir warten, bis unsere Kinder tot sind und unsere Enkel auch.
Franco: Dann solltest du deine Kinder und Enkelkinder am besten jetzt gleich nach Ruanda zurückbringen und uns in Ruhe lassen.
Haj: (Unterbricht ihn hastig auf französisch, vermutlich um den Streit abzuwürgen) Wir warten? Habe ich da wir gehört? (Kurze Stepeinlage der Krokosohlen, gefolgt von Totenstille) Glaubst du im Ernst, hier geht es um uns? Der Alte will nicht uns, er will die Macht. Er will sich seinen Platz in der Geschichte sichern, bevor er den Löffel abgibt, und dafür ist er bereit, uns an irgendein nebulöses Syndikat zu verhökern und das ganze verdammte Haus über uns zum Einsturz zu bringen.
Ich habe die Flut der Ketzereien kaum zu Ende übersetzt, da ruft Philips Glocke uns zur zweiten Runde.
* * *
Und an dieser Stelle muß ich einen Vorfall erwähnen, der zwar zum Zeitpunkt des Geschehens keinen nachhaltigen Eindruck in meinem überreizten Hirn hinterließ, im Licht der nachfolgenden Ereignisse jedoch nähere Betrachtung verdient. Philips Glocke ertönt, ich nehme den Kopfhörer ab. Ich stehe auf, erwidere das Zwinkern, das Spider mir zukommen läßt, und erklimme die Kellertreppe. Oben angelangt, gebe ich das vereinbarte Zeichen: drei kurze Schläge an die Eisentür, die Anton einen Spalt weit öffnet und hinter mir gleich wieder schließt, unglücklicherweise mit einem lauten Knall. Ohne daß zwischen uns ein Wort fiele, dirigiert Anton mich um die Hausecke zum Ostende des Bogenganges, von wo es nur ein kurzes Stück bis zum Spielzimmer ist, alles nach wie vor nach Plan. Nur mit einer Abweichung: beide haben wir die Rechnung ohne die Sonne gemacht, die mir direkt in die Augen scheint und mir einen Moment lang die Sicht nimmt.
Als ich meinen Weg antrete, die Augen niedergeschlagen, um nicht geblendet zu werden, höre ich Schritte und die typisch afrikanischen Lachsalven der Delegierten, die sich vom anderen Ende des Bogengangs nähern. Ich werde ihnen direkt in die Arme laufen. Was bedeutet, daß ich eine überzeugende Ausrede parat haben muß, um zu erklären, warum ich von der falschen Seite des Hauses komme. Haben sie gesehen, wie Anton mich um die Ecke gescheucht hat? Haben sie die Eisentür zuknallen hören?
Zum Glück habe ich Übung im Improvisieren, dank der Eintagesschulungen in Eigensicherung, die für uns Aushilfsagenten Pflicht sind. Was habe ich mit meinen kostbaren Minuten der Muße gemacht, während unsere Delegierten in Klausur waren? Antwort: Dasselbe wie in jeder anderen Verhandlungspause auch – mir ein entlegenes Fleckchen gesucht, wo ich ein bißchen Ruhe und Frieden genießen kann, bis der Gong ertönt. So gewappnet, setze ich meinen Anmarsch auf die Tür des Spielzimmers fort. Ich erreiche sie, halte an. Sie erreichen sie, halten an. Oder vielmehr Haj hält an, denn Haj als der beweglichste der drei geht vorneweg, während Franco und Dieudonné in ein paar Schritten Abstand folgen. Sie haben noch nicht zu ihm aufgeschlossen, als mich Haj, nur Minuten, nachdem er mich als Zebra tituliert hat, mit erlesener Höflichkeit anspricht:
»Nun, werter Herr Dolmetscher, sind Sie erquickt? Frisch und bereit für die nächste Schlacht?«
Eine harmlose Frage, in harmlosem Ton gestellt. Nur daß er mich auf Kinyarwanda anredete. Diesmal freilich kam ich ohne Warnsignale von Philip aus. Ich antwortete mit einem verwirrten und leicht bedauernden Lächeln. Als das seine Wirkung verfehlte, zuckte ich die Achseln und schüttelte den Kopf, um mein andauerndes Unverständnis zu bekunden. Haj begriff seinen Irrtum – oder tat so als ob –, lachte entschuldigend auf und klopfte mir auf den Oberarm. Hatte er versucht, mich zu überrumpeln? Nein, sicher nicht. Das sagte ich mir zumindest. Er war in die Falle getappt, die am Wege jedes gestandenen Vielsprachlers lauert. Er hatte in der Gästesuite so lange am Stück Kinyarwanda gesprochen, daß er das Umschalten verschwitzt hatte. Kann jedem passieren. Vergiß es.
10
Meine Herren. Ich übergebe an Monsieur le Colonel!«
Maxie hat die Hände in die Hüften gestemmt, Kampfeslust glimmt in seinen wäßrig blauen Augen, als er vor der Staffelei Aufstellung nimmt: noch drei Jahre bis zu seinem Borodino. Das Jackett hat er ausgezogen, aber die Krawatte ist noch dran. Wahrscheinlich trägt er so selten eine, daß er sie völlig vergessen hat. Unsere Zahl ist geschrumpft. Der Mwangaza, vormals unser Mann auf den Barrikaden, aber nun der große Friedensverkünder, hat sich in die Abgeschiedenheit der Königlichen Gemächer zurückgezogen, begleitet von seinem ringelgeschwänzten Jünger. Nur Tabizi – Boxerschultern vorgeschoben, Lider gesenkt, das schwarzgefärbte Haar methodisch über seine Platte gekämmt – wacht nun darüber, daß alles mit rechten Dingen zugeht.
Aber es ist nicht Maxie, auf den ich blicke, nicht Tabizi, nicht die Delegierten. Es ist meine Kindheit. Es ist die große Militärkarte der Stadt Bukavu, dieses Juwels von Zentralafrika – und nach Ansicht mancher von ganz Afrika – an der Südspitze von Afrikas höchstgelegenem und darum kühlstem See. Und dieser See, von Nebeln umwallt und in leuchtendgrüne Hügel gebettet, ist verzaubert, das wußte schon mein seliger Vater. Und erst recht wußten es die Fischer, mit denen er unten an den Landestegen seine Schwätzchen hielt, während sie die sambaza aus ihren Netzen klaubten und in gelbe Plastikeimer warfen, wo sie zappelten, stundenlang, wenn nicht jemand wie ich kam und sie ins Wasser zurückwarf. Sie kannten auch Mamba Mutu, die halb Krokodil ist und halb Frau, und die schlechten Menschen, die sich bei Nacht ans Ufer hinunterschleichen, um mittels Hexerei die lebendigen Seelen unschuldiger Freunde gegen Wonnen in dieser Welt und sichere Vergeltung in der nächsten einzutauschen. Weshalb der Kivusee als verflucht gilt, und weshalb immer wieder Fischer verschwinden, in die Tiefe gezogen von Mamba Mutu, die sich an ihren Gehirnen gütlich tut. Das jedenfalls erzählten die Fischer meinem seligen Vater, der Verstand genug besaß, sich über ihren Glauben nicht lustig zu machen.
Die Hauptstraße säumen klassische Kolonialhäuser mit abgerundeten Ecken und rechteckigen Fenstern, die von Bougainvilleen, Jakaranda- und Tulpenbäumen überhangen sind. Die Hügel ringsum schwellen von Bananenhainen, und von Teeplantagen so dicht und weich wie grüne Matten. Von den Hängen dieser Hügel aus kann man die fünf Halbinseln der Stadt zählen. Die größte heißt La Botte, und da ist sie, auf Maxies Karte: ein Stiefel ganz wie der italienische, mit schmucken Villen, deren gehätschelte Gärten sich in Terrassen zum Seeufer hinabsenken; selbst le Maréchal Mobutu ließ sich dazu herab, hier zu residieren. Der Schaft zielt kühn hinaus auf den See, geradewegs auf Goma im Norden, so wirkt es, doch im letzten Moment knickt der Fuß scharf nach rechts weg: ein Tritt für Ruanda am Ostufer.