Jetzt übernimmt wieder Maxie. Sein erklärter Liebling ist der Sechzig-Millimeter-Mörser, Garant für die Fetzen, die Spider so gern fliegen sieht. Er findet auch lobende Worte für die Panzerfaust mit einer Reichweite von neunhundert Metern, die aus einer ganzen Einheit Hackfleisch macht, aber sein Herz gehört doch dem Sechzig-Millimeter-Mörser. Ich dolmetsche es alles und fühle mich dabei wie in einem Tunnel, in dem meine eigene Stimme aus der Dunkelheit zu mir zurückschallt.
– Erst bringen wir den Treibstoff rein, dann die Munition.
– Jeder Mann bekommt seine eigene Kalaschnikow made in Czechia. Eine bessere Maschinenpistole findet man auf der ganzen Welt nicht.
– Jeder Stützpunkt erhält drei russische 7.62-Maschinengewehre, zehntausend Schuß Munition plus einen weißen Hubschrauber zum Transport von Fracht und Männern.
– Jeder weiße Hubschrauber wird mit einer Gatling-Kanone in der Bugnase ausgestattet sein, aus der sich viertausend 12,7-mm-Geschosse pro Minute abfeuern lassen.
– Und für alle: reichlich Zeit fürs Training. Gutes Training hat noch keiner Einheit geschadet.
Verklickern Sie’s ihnen, alter Junge.
Ich verklickere es.
Keine Glocke ist ertönt, aber die Bahnhofsuhr tickt weiter, und wir Soldaten halten auf Pünktlichkeit. Die Doppeltür zur Bibliothek schwingt auf. Unsere vergessenen Damen, jetzt mit karierten Schürzen bekleidet, posieren vor einem opulenten Büfett. Wie eine Fata Morgana erscheinen vor meinem Auge Hummer auf einem Bett aus Eisblöcken, ein mit Gurkenscheibchen garnierter Lachs, diverse kalte Braten, eine Käseplatte mit einem weichen Brie, der auf irgendeinem Weg dem Abfallhäcksler entkommen sein muß, Weißwein in beschlagenen Silberkübeln, eine Obstpyramide und, als Tüpfelchen auf dem i, eine zweistöckige Torte, über der die Fahnen von Kivu und der Demokratischen Republik Kongo wehen. Wie aufs Stichwort tritt im selben Augenblick, hereingeleitet von Anton und gefolgt vom Delphin, der Mwangaza durch die Terrassentür.
»Mittagspause, meine Herren!« ruft Philip spaßhaft, als wir uns pflichtschuldig erheben. »Hauen Sie ordentlich rein!«
Weiße Hubschrauber mit den UN-Emblemen darauf, wiederhole ich bei mir. Aus deren Bugnasen Gatling-Kanonen viertausend Schuß in der Minute abfeuern, im Namen von Frieden, Gleichberechtigung und Wohlstand für ganz Kivu.
* * *
Hier sollte ich vielleicht vorausschicken, daß es in all meinen Jahren als Dolmetscher kein einziger meiner Klienten geduldet hätte, daß ich der jeweils gebotenen Form der Gastlichkeit fernblieb, ob es nun das große Festbankett mit Krawattenzwang und Toastmaster war oder die kleine Cocktailrunde zum Abschluß des Tages mit warmen und kalten Häppchen. Aber die Anweisungen unseres Skippers waren unmißverständlich gewesen, und die Vorahnungen, die sich dunkel in mir zu regen begannen, ließen mein leibliches Wohl ohnehin zweitrangig erscheinen, trotz der verschwenderischen Fülle belegter Brötchen, die mich statt Maxies »Schiffszwieback« im Heizungskeller erwarteten.
»Wir dürfen ausspannen, mein Junge«, teilt Spider mir mit und stopft sich ein Käse-Essiggurken-Brötchen in den Mund, während er mit der freien Hand großzügig in Richtung seiner Aufnahmegeräte wedelt. »Hören Sie hier und da mal bei den Tischen rein, und sonst legen Sie bis auf weiteres die Füße hoch.«
»Wer sagt das?«
»Philip.«
Spiders Freizeitstimmung beruhigt mich keineswegs, eher im Gegenteil. Mit dem gleichen wissenden Schmunzeln, mit dem er mir vorhin angekündigt hat, daß es heute mittag rundgehen wird, sagt er mir nun, daß wir Flaute haben? Ich nehme meinen Kopfhörer von der Armlehne, nur um von einem Vakuum empfangen zu werden. Diesmal hat Sam nicht vergessen, ihr Mikrophon auszuschalten. Spider studiert ein abgegriffenes Militärmagazin und kaut energisch, aber vielleicht beobachtet er mich ja doch. Ich gehe auf BIBLIOTHEK und höre das voraussagbare Klirren von Tellern und Besteck, während das Büfett in Gang kommt. »Darf ich Ihnen eine Scheibe abschneiden, Sir?« fragt Gladys (oder ist es Janet?) in überraschend gutem Swahili. Ich rufe mir den Lageplan der zum Speisesaal umfunktionierten Bibliothek vor Augen: ein Büfett mit Bedienung, dazu zwei Zweiertische und ein Vierertisch, jeder davon meiner Konsole zufolge mit eigener Wanze. Die Terrassentüren sind weit geöffnet für diejenigen, die sich im Freien zu ergehen wünschen. Gartentische, auch sie verkabelt, stehen für sie bereit. Philip gibt den Maître d’hôtel.
»Monsieur Dieudonné, warum nehmen Sie nicht hier Platz? – Mzee Franco, wo sitzen Sie denn mit dem Bein am bequemsten?«
Worauf lausche ich? Warum bin ich so wachsam? Ich wähle einen Tisch aus und höre Franco im Gespräch mit dem Mwangaza und dem Delphin. Er beschreibt ihnen einen Traum, den er hatte. Afrikanische Träume habe ich als das Kind, das es nicht gab, von den Missionsdienern in Mengen zu hören bekommen, deshalb überrascht mich der von Franco nicht weiter, und die kühne Auslegung, die er mitliefert, auch nicht.
»Ich ging in den Hof meines Nachbarn und erblickte einen Leichnam, der mit dem Gesicht nach unten im Dreck lag. Ich drehte ihn um, und meine eigenen Augen starrten zu mir empor. Da wußte ich, es ist Zeit, den Anordnungen meines Generals Folge zu leisten und den Mai Mai gute Bedingungen für diesen großen Kampf zu verschaffen.«
Der Delphin bekundet mit einfältigem kleinem Lachen seinen Beifall. Der Mwangaza gibt sich unverbindlich. Aber ich habe nur Ohren für das, was ich nicht höre: das Klacken grüner Krokoschuhe auf Schieferboden, das schrille Hohnmeckern. Ich schalte auf den ersten der kleinen Tische um: Philip und Dieu-donné, die in einem Gemisch aus Swahili und Französisch landwirtschaftliche Praktiken erörtern. Ich schalte zum zweiten und bekomme nichts. Wo ist Maxie? Wo Tabizi? Aber ihr Hüter bin ich ja nicht. Ich bin Hajs Hüter, und wo steckt er? Ich schalte wieder zum Vierertisch, falls er seine Gedanken aus Respekt vor der Freundschaft des großen Mannes mit seinem Vater nur ein Weilchen für sich behalten hat. Statt dessen höre ich Poltern und Schnaufen, aber überhaupt keine Stimmen mehr, nicht einmal die des Mwangaza. Es dauert ein bißchen, bis ich mir zusammenreime, was da passiert. Franco hat sein Fetischsäckchen aus den Tiefen seines riesigen braunen Anzugs hervorgeholt und breitet dessen Inhalt vor seinem neuen Anführer aus: das Knöchelbein eines Affen, eine Salbendose, die einst seinem Großvater gehört hat, ein Stück Basalt aus einer versunkenen Urwaldstadt. Der Mwangaza und der Delphin bewundern die Schätze höflich. Sofern Tabizi auch dabei ist, hält er sich bedeckt.
Und immer noch kein Zeichen von Haj, so angestrengt ich auch lausche.
Ich kehre zu Philip und Dieudonné zurück, wo sich inzwischen Maxie in die Unterhaltung eingeschaltet hat und sich in seinem schauerlichen Französisch über die Viehzucht der Banyamulenge ausläßt. Endlich mache ich das, was ich schon vor zehn Minuten hätte tun sollen. Ich schalte in den SALON des Mwangaza und höre Haj schreien.
* * *
Zugegeben, die Zuordnung war nicht gleich zweifelsfrei. Der Schrei enthielt keinen aus der breiten Palette der von Haj bereits gehörten Laute – aber dafür um so mehr bislang ungehörte, als da wären Todesangst, Qual und ein verzweifeltes Flehen, das nach und nach zu schwachem Gewimmer abklang, doch die Worte waren erkennbar, und sie bestätigten die Korrektheit meiner Vermutung. Ich kann diese Worte annähernd wiedergeben, nicht jedoch verbatim. Dieses eine Mal in meinem Leben verweigerte der Stift, wiewohl gezückt, den Kontakt mit dem Block. Aber es waren ohnehin Banalitäten, bitte und um Gottes willen, nein und aufhören. Maria wurde beschworen, aber ob Haj die Muttergottes anrief oder eine Geliebte oder seine Mutter, blieb unklar.
Der Schrei kam mir außerdem extrem laut vor, was ich später relativieren mußte. Aber im ersten Moment schien es mir, als würde zwischen den beiden Muscheln meines Kopfhörers ein Draht gespannt, der rotglühend mitten durch mein Hirn verlief. Es war ein so durchdringendes Gellen, daß ich gar nicht glauben konnte, daß Spider es nicht auch gehört hatte. Doch als ich einen heimlichen Blick zu ihm hinüberschickte, hatte sich an seinem Verhalten nicht das geringste geändert. Er saß immer noch in derselben Haltung da, kaute an demselben Brötchen, Käse mit Essiggurke, las dasselbe Militärmagazin oder las es vielleicht auch nicht, und das alles mit derselben überlegenen Genugtuung, die mir vorhin so auf die Nerven gefallen war.