Bis jetzt waren Hajs Antworten kaum hörbar, daher auch Tabizis Gewohnheit, sie in voller Lautstärke zu wiederholen, für die Notfallmikrophone vermutlich, von denen ich die Finger zu lassen habe, und für etwaige sonstige Zuhörer, die auf einer eigenen Leitung zugeschaltet sein mögen – allen voran sicher Philip. Aber kaum fällt der Name Kinshasa, verändert sich die Stimmung im Salon jäh, genau wie Haj selbst. In ihn kommt Leben. Schmerz und Erniedrigung schlagen in Wut um, seine Stimme wird fester, seine Artikulation deutlicher, und der alte rebellische Haj ersteht wundersam neu. Keine wimmernden Geständnisse mehr, unter Qualen preisgegeben. Statt dessen eine wild aus ihm herausbrechende, bitterböse Schmährede, eine zornsprühende Anklage.
Haj: Wer die sind, diese Klugscheißer in Kinshasa, mit denen ich gesprochen habe? Eure Freunde, verdammt noch mal! Die Freunde des Mwangaza – die Profitgeier, die er nicht mit der Feuerzange anfassen will, ehe er nicht das neue Jerusalem in Kivu erbaut hat! Und soll ich euch sagen, wie sie sich nennen, dieser Haufen von selbstlosen Staatsdienern, wenn sie ihre Biere kippen und ihre Nutten bumsen und überlegen, welchen Mercedes sie sich kaufen sollen? Der Dreißig-Prozent-Club! Welche dreißig Prozent? Die dreißig Prozent, die der Volksanteil sein sollten und die sie für gewisse Gefälligkeiten einzukassieren gedenken, die sie dem Pfad der Mitte erweisen. Der Teil dieser ganzen Scheiß-Unternehmung, der Arschlöcher wie meinen Vater auf die Idee bringt, sie könnten Schulen und Straßen und Krankenhäuser bauen und sich dabei selber die Taschen vollstopfen. Und was müssen diese Profitgeier tun, um sich den Volksanteil zu verdienen? Das, was sie am liebsten tun: gar nichts. Wegschauen. Ihren Soldaten sagen, sie sollen ein paar Tage in ihren Kasernen bleiben und nicht gar so viele Leute vergewaltigen.
Haj schlägt den schmeichelnden Tonfall eines Straßenverkäufers an. Wenn er die entsprechenden Gebärden dazu machen könnte, wäre ihm noch besser gedient.
Haj: Aber selbstredend, Mzee Mwangaza! Sie wollen ein paar Volksaufstände in Bukavu und Goma anzetteln, sich vor den Wahlen an die Macht bringen, die Ruander rausschmeißen und einen kleinen Krieg anfangen? Gar kein Problem! Sie wollen sich den Flughafen unter den Nagel reißen, groß ins Geschäft einsteigen, die Halden abräumen, das Zeug nach Europa schaffen und damit weltweit die Preise drücken? Jederzeit! Ein kleines Detail nur. Wir verteilen den Volksanteil, nicht ihr. Und wie wir ihn verteilen, geht euch einen Scheißdreck an. Der Mwangaza soll Gouverneur von Süd-Kivu sein? Er hat unsere uneingeschränkte, selbstlose Unterstützung. Weil von jedem beschissenen Bauauftrag, den er vergibt, jeder Straße, die er plant, und jeder beschissenen Blume, die er an der Avenue Patrice Lumumba pflanzt, ein Drittel an uns geht. Und wenn ihr uns bescheißt, dann kommen wir euch mit der Verfassung und jagen euch über die Grenze, daß es staubt. Danke fürs Zuhören.
Hajs Wortschwall wird bizarrerweise durch das Klingeln eines Telefons unterbrochen, was mich doppelt aufschreckt, da das einzige funktionsfähige Telefon, von dem ich bisher wußte, das Satellitentelefon im Lagezentrum ist. Anton hebt ab, sagt »Moment« und gibt den Hörer an Tabizi weiter, der zuhört, dann heftig in seinem unschönen Englisch protestiert:
»Ich habe den Drecksack gerade geknackt! Ich habe ein gutes Recht!«
Aber sein Protest nützt ihm offenbar nichts, denn kaum hat er aufgelegt, entbietet er Haj einen Abschiedsgruß auf Französisch: »Also, ich muß gehen. Aber wenn du mir je wieder über den Weg läufst, dann bringe ich dich eigenhändig um. Nicht sofort. Erst bringe ich deine Frauen um, deine Kinder, deine Schwestern und Brüder und deinen gottverdammten Vater und alle, die denken, sie lieben dich. Und danach dich . Dauert Tage. Wochen, wenn ich Glück habe. Schneidet das Dreckschwein los.«
Die Tür schließt sich mit einem Knall hinter ihm. Gleich darauf Antons Stimme, vertraulich, fürsorglich:
»Alles in Ordnung, Junge? Man tut, was man gesagt kriegt, stimmt’s, Benny? Als einfacher Soldat …«
Benny gibt sich ähnlich konziliant. »Dann wollen wir dich mal ein bißchen saubermachen. Nichts für ungut, Kumpel. Beim nächsten Mal stehen wir dann auf derselben Seite.«
Klüger wäre es jetzt wohl, zur Bibliothek zurückzuschalten, aber Hajs Schmerzen lähmen mich. Meine Schultern sind brettsteif, Schweiß strömt mir das Rückgrat hinab, und in meinen Handflächen sind rote Abdrücke, wo ich mir die Nägel ins Fleisch gebohrt habe. Ich sehe zu Spider hinüber, der mit einem Plastiklöffel Käsekuchen spachtelt, ganz gefangen von seinem Militärmagazin, jedenfalls gibt er sich so. Ob Anton und Benny ihm wohl eine Kundenbewertung zukommen lassen werden? Eins a, dein kleiner Elektroschocker, Spider. Der Knabe hat schon nach zwei Sekunden Rotz und Wasser geheult.
Aus der Ferne Wasserrauschen – hastig schalte ich von Salon zu Badezimmer und komme gerade rechtzeitig zu den zotigen Duschgesängen von Benny und Anton, die ihr Opfer säubern. Zögernd finde ich mich damit ab, daß ich ihn vielleicht doch allein wieder auf die Beine kommen lassen sollte, als ganz im Hintergrund verstohlen eine Tür auf- und wieder zuklickt. Und da keine Schritte dazu hörbar werden, weiß ich, Philip der Samtweiche ist gekommen, um den Platz des übereifrigen Tabizi einzunehmen.
Philip: Danke, Jungs.
Er dankt ihnen nicht, er schickt sie weg. Dieselbe Tür öffnet und schließt sich erneut, und nun ist Philip allein. In der Nähe höre ich das Klirren von Glas. Philip hat ein Getränketablett aufgehoben und plaziert es an einer Stelle, die ihm mehr zusagt. Er setzt sich auf ein Sofa oder in einen Sessel, setzt sich noch einmal um, lehnt sich zurück. Dann höre ich das langsame Klacken lindgrüner Krokosohlen auf Steinfliesen.
Philip: Geht’s mit dem Sitzen?
Haj setzt sich auf irgendein Polstermöbel, flucht.
Philip: Sie haben das Mittagessen verpaßt. Ich habe Ihnen ein bißchen Thunfischsalat mitgebracht. Nein?
Wie wär’s dann mit einem verdünnten Scotch? (Er gießt auf Verdacht einen ein: ein Spritzer, sehr viel Sodawasser, zweifaches Platschen von Eiswürfeln)
Sein Ton ist unbeteiligt. Was soeben passiert ist, hat nichts mit ihm zu tun.
Philip: Ein paar Worte zu Marius. Ihrem ausgezeichneten Freund und Kollegen aus Pariser Zeiten. Ja? Einem von fünf vielversprechenden jungen Partnern in einer multinationalen Risikokapital-Gesellschaft namens Union Minière des Grands Lacs. Der Nummer zwei seiner Firma in Johannesburg, immerhin, mit Schwerpunkt Ostkongo.