Выбрать главу

Philips Glocke läutet zur nächsten Runde. Haj hört sie. Ich höre sie ebenfalls, ganz fern über die Mikrophone, aber ich lasse es mir vor Spider nicht anmerken. Ich bleibe sitzen, Kopfhörer über den Ohren, eifrig auf meinem Block herumkritzelnd, die Unschuld in Person. Haj klonkt zur Tür, stößt sie auf und singt sich hinaus in den Sonnenschein. Den ganzen Weg den Bogengang entlang bis zur Gästesuite fangen die Mikros seine süßliche Weise über den Sieg der Tugend ein.

13

Bis heute will es mir nicht recht gelingen, all die widerstreitenden Empfindungen zu beschreiben, von denen ich gebeutelt wurde, als ich aus meinem Untergrundverlies auftauchte und mich wieder zu dem kleinen Häufchen von Gläubigen gesellte, das sich zur letzten Sitzung im Spielzimmer einfand. Unten im Keller hatte ich keine Hoffnung mehr für die Menschheit gesehen, aber auf meinem Weg durch den Bogengang redete ich mir ein, im Stand der Gnade zu sein. Ich blickte hinaus auf die Welt und war überzeugt, ein Sommergewitter müßte in meiner Abwesenheit die Luft gereinigt und jedes Blatt, jeden Grashalm in neuen Glanz getaucht haben. Der Pavillon glich einem griechischen Tempel im Licht der Nachmittagssonne. Ich feierte eine wundersame Auferstehung, bildete ich mir ein: Hajs und meine eigene gleichermaßen.

Mein zweiter Trugschluß, um nichts löblicher als der erste, war, daß mein Denkvermögen durch die wiederholten Unterwassereinsätze gelitten hatte, weshalb ich nun überall Gespenster sah: die gesamte Folge von Ereignissen, angefangen mit Hajs Schrei und endend mit seinem schmalzigen Liedlein, war nichts als eine durch Reizüberflutung hervorgerufene Halluzination, unser Audio-Duell auf der Steintreppe ebenso, und gleiches galt für jegliche anderen unguten Phantasien von Zetteln, die von Hand zu Hand gegangen,

und Bestechungssummen, die ausgehandelt worden waren.

Und ich hoffte sehr, diese bequeme Theorie verifizieren zu können, als ich mich auf meinen Platz an dem grünbespannten Tisch setzte und die Blicke rasch über die Mitspieler in meinem illusorischen Drama schweifen ließ, beginnend mit Anton, der sich mit einem Stapel ockerfarbener Aktenmappen bewaffnet hatte und diese in dem ihm eigenen zackigen Stil auf alle Plätze verteilte. Weder an seiner Kleidung noch an seiner sonstigen Erscheinung wies irgend etwas auf kürzliche körperliche Ertüchtigung hin. Seine Fingerknöchel waren leicht gerötet, ansonsten keine Schrammen. Schuhspitzen blitzblank, Bügelfalten rasiermesserscharf. Benny war nirgends zu sehen: Grund genug für mich zu glauben, er habe die Mittagspause über Kindermädchen für Jasper gespielt.

Da weder von Philip noch von Haj etwas zu sehen war, faßte ich Tabizi ins Auge, der unruhig wirkte. Aber wie auch nicht, schließlich stand die Bahnhofsuhr auf zwanzig nach vier, und die Stunde der Wahrheit nahte. Neben ihm saß sein Herr und Meister, der Mwangaza. So wie die Sonne auf seinem Sklavenhalsband blitzte und sein weißes Haar zum Heiligenschein erstrahlen ließ, schien unser Lichtbringer die perfekte Verkörperung von Hannahs sämtlichen Träumen. Konnte er tatsächlich derselbe sein, der in meiner Phantasie den Volksanteil für die schweigende Duldung durch die Profitgeier in Kinshasa verkauft hatte?

Auf des Mwangazas anderer Seite schmunzelte der glatte Delphin sein frohgemutes Delphinschmunzeln.

Und was Maxie betraf, so lümmelte der sich neben Philips leerem Stuhl, die Beine weit ausgestreckt, und sein bloßer Anblick reichte schon aus, um mich zu überzeugen, daß ich derjenige mit der verzerrten Wahrnehmung war und alle rings um mich die, die sie zu sein behaupteten.

Wie zur Bestätigung erscheint durch die innere Tür mein Retter Philip. Er winkt Dieudonné und Franco zu. Als er an Tabizi vorbeigeht, murmelt er ihm etwas ins Ohr. Tabizi quittiert es mit ausdruckslosem Nicken. Dann kommt er zu dem Platz, der für Haj reserviert ist, zaubert einen zugeklebten Umschlag aus seiner Jackentasche hervor und schiebt ihn wie ein Trinkgeld in die ockerfarbene Mappe, die unseres säumigen Delegierten harrt. Erst danach nimmt er seinen Sitz am anderen Ende des Tisches ein, und mit meiner Verdrängungsphase – danke, Paula – ist es gründlich vorbei. Ich weiß, daß Philip mit London gesprochen und sich zu dem Mann durchstellen lassen hat, der ja sagt. Und so finster, wie Tabizi schaut, weiß ich auch, daß Haj die Schwäche des Syndikats richtig eingeschätzt hat: Die Vorbereitungen sind zu weit fortgeschritten, jetzt aufgeben käme zu teuer, sie haben schon so viel investiert, daß sie ebensogut noch etwas nachlegen können, und mit einem Rückzieher zu solch spätem Zeitpunkt verspielen sie eine Chance, wie sie sich ihnen so bald nicht noch einmal bietet.

Im selben harschen Licht der Realität betrachte ich mir den Mwangaza von neuem. Ist sein Heiligenschein gefönt? Haben sie ihm einen Ladestock das Rückgrat hinuntergerammt? Ist er längst tot und nur im Sattel festgebunden wie El Cid? Für Hannah war er in den Glorienschein ihres Idealismus getaucht, aber nun da ich einen klaren Blick auf ihn habe, offenbart sich in seinen zerknitterten Zügen die ganze traurige Abwärtskurve seines Lebens. Unser Lichtbringer ist ein Gescheiterter. Er war tapfer – man sehe sich seine Vita an. Er war ein Leben lang gewitzt, gewissenhaft, loyal und einfallsreich. Er hat alles richtig gemacht, aber die Krone ging jedesmal an den Mann neben oder den Mann unter ihm. Und das lag daran, daß er nicht rücksichtslos genug war, nicht korrupt genug, nicht doppelzüngig genug. Diesmal wird er es sein. Er wird das Spiel mitspielen, gegen alle seine Überzeugungen. Und die Krone ist zum Greifen nahe, doch was nützt das? Denn sollte er sie jemals tragen dürfen, so wird sie den Leuten gehören, an die er sich auf seinem Weg an die Spitze verkauft hat. Jeder seiner Träume ist mit einer zehnfachen Hypothek belastet. Allen voran der Traum, er müßte, wenn er erst an der Macht ist, seine Schulden nicht mehr begleichen.

Haj ist erst ein paar Minuten überfällig, aber auf mich wirkt es wie eine Ewigkeit. Alle um den Tisch haben ihre ockerbraune Mappe aufgeschlagen, also schlage ich meine auch auf. Das Dokument darin kommt mir bekannt vor, was nicht weiter verwunderlich ist, schließlich habe ich es in einem früheren Leben aus dem Französischen ins Swahili übersetzt. Beide Versionen sind im Angebot. Dazu ein Dutzend Seiten imposanter Zahlen und Berechnungen, alle, soweit ich sehen kann, für eine ferne Zukunft veranschlagt: Fördermengen, Transportkosten, Lagerkosten, Absatzvolumen, Gewinne, alles feinste Schätzungen, alles gröbster Betrug.

Jetzt hebt Philip das gepflegte weiße Haupt. Ich sehe es am oberen Rand meines Gesichtsfelds, während ich die Mappe durchblättere. Er lächelt jemandem hinter mir zu, ein warmes, ein kumpelhaftes, ja intimes Lächeln, also Vorsicht. Über die Steinfliesen klacken Krokosohlen heran, und mir wird flau im Magen. Ihr Tempo ist schleppender als gewohnt. Haj schlendert auf den Tisch zu, Sakko offen, senfgelbes Futter hervorblitzend, Parker-Füller wieder vollzählig, gegelte Stirnlocke mehr oder weniger da, wo sie sein soll. Im Herz-Jesu-Heim schuldete man es sich, unbekümmert aufzutreten, wenn man sich nach einer Tracht Prügel zu den Klassenkameraden gesellte. Haj läßt sich von dem gleichen Ethos leiten. Seine Hände sind in die Hosentaschen geschoben, sichtlich ihr liebster Platz, und er wiegt sich in den Hüften. Dabei weiß ich, daß jede Bewegung ihm Qualen bereiten muß. Auf halbem Weg zu seinem Stuhl bleibt er stehen, fängt meinen Blick auf und grinst mir zu. Ich habe meine Mappe vor mir, und sie ist aufgeschlagen, also könnte ich vage lächeln und zu meiner Lektüre zurückkehren. Aber das tue ich nicht. Ich schaue ihm geradewegs ins Gesicht.

Ich schaue ihm ins Gesicht, und er schaut zurück, und so verharren wir. Wie lange, das kann ich im Rückblick nicht sagen. Ich nehme nicht an, daß der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr mehr als einen oder zwei Striche vorrückte. Aber auf jeden Fall lange genug, um ihm zu zeigen, daß ich Bescheid wußte, wenn denn einer von uns jemals daran gezweifelt hatte. Und lange genug, um mir zu zeigen, daß er wußte, daß ich Bescheid wußte, und so immer hin und her. Und lange genug, um für einen eventuellen Beobachter klarzustellen, daß wir entweder zwei Homosexuelle sein mußten, die Balzsignale aussandten, oder aber zwei Männer, die ein verbotenes Wissen miteinander teilten, was genausowenig angehen konnte. Seine Glupschaugen schauten etwas trübe, aber wie auch nicht, nach dem, was er durchgemacht hatte? Bezichtigten sie mich des Verrats an ihm? Bezichtigte ich ihn des Verrats an sich selbst, und am Kongo? Heute, mit all diesen Tagen und Nächten zu meiner Verfügung, um über unseren Blickwechsel nachzusinnen, sehe ich ihn als einen Moment verdeckten gegenseitigen Erkennens. Beide waren wir Hybriden: ich durch meine Geburt, er durch seine Bildung. Beide hatten wir uns zu viele Schritte von dem Land entfernt, das uns hervorgebracht hatte, um noch irgendwo wirklich hinzugehören.