»Ein fabelhaftes Wochenende noch«, wünsche ich meiner Chauffeuse in dringlichem Ton, was übersetzt soviel hieße wie: Tausend Dank, daß Sie mir geholfen haben, meine Bänder und Stenoblöcke aus Luton herauszuschmuggeln.
Der Expreßbus zur Victoria Station ist leer und stockdunkel. Fahrer rauchen und schwatzen daneben. Der entsprungene Häftling setzt sich ganz hinten in die Ecke, klemmt die Reisetasche zwischen die Beine und verfrachtet die rote Sporttasche ins Gepäcknetz. Er schaltet sein Handy ein. Es leuchtet auf, beginnt zu vibrieren. Er wählt 121 und drückt die grüne Taste. Eine strenge Frauenstimme warnt ihn, daß er FÜNF neue Nachrichten hat.
Penelope, Freitag, 19.15: Sag mal, bist du noch zu retten, Salvo? Wo zum Teufel steckst du? Wir haben dich überall gesucht. Erst kommst du zu spät, zwei Minuten später sehen dich mehrere Zeugen, wie du zu einem Nebenausgang rausschleichst. Was soll das? Fergus hat die Klos und die Bars unten abgesucht und zig Leute die Straßen rauf- und runtergehetzt, daß sie dich ausrufen. (Gedämpftes »Ja, ich weiß, Darling«) Wir sitzen jetzt in der Limousine, Salvo, und wir sind unterwegs zum Abendessen bei Sir Matthew. Fergus sagt dir noch mal die Adresse, falls du sie verloren hast. Echt, ich faß es nicht!
Thorne the Horn, Freitag, 19.20: (Schottisch mit einer Prise London darin) Salvo, guter Mann, hören Sie, wir machen uns fast in die Hosen vor Sorge. Wenn Sie nicht innerhalb der nächsten Stunde ein Lebenszeichen von sich geben, schicke ich meine Leute los, daß sie die Flüsse nach Ihnen absuchen. Haben Sie einen Stift da? Und einen Zettel? Wie? (Unverständlich, dann lautes, unflätiges Lachen) Penelope sagt, Sie schreiben sich Sachen auf den Arm. Wo sind Sie noch überall beschriftet, Mann? (Es folgt eine Adresse in Belgravia. Ende der Nachricht)
Penelope, Freitag, 20.30: Ich stehe bei Sir Matthew in der Eingangshalle, Salvo. Es ist eine sehr schöne Eingangshalle. Ich hab deine Nachricht gekriegt, wirklich rührend. Es interessiert mich einen Scheißdreck, wer dein ältester und bester Unternehmerkunde ist, du hast kein Recht, mich dermaßen zu demütigen – (gedämpftes »Nur noch eine Minute, Fergus«) Das ist dir vielleicht neu, Salvo, aber Sir Matthew ist zufällig extrem abergläubisch. Dank dir sitzen wir zu dreizehnt am Tisch, an einem Freitag. Weshalb Fergus jetzt wie ein Blöder rumtelefonieren darf, um – ah, er hat wen gefunden – wen hast du denn gefunden, Fergus-Darling? (Eine Hand legt sich auf den Hörer) – er hat Jellicoe gefunden. Jelly springt für dich in die Bresche. Er besitzt zwar keinen Smoking, aber Fergus hat ihm befohlen, sofort nüchtern zu werden und zu kommen, wie er ist. Wages also ja nicht, hier noch aufzukreuzen, Salvo. Mach einfach weiter mit dem, was du grade machst, scheißegal, was es ist. An Sir Matthews Tisch passen keine fünfzehn, und für einen Abend hast du mich weiß Gott genug blamiert!
Penelope, Samstag, 09.50: Ich bin’s, Schatz. Tut mir leid, daß ich gestern so zickig war. Ich hab mir einfach so schreckliche Sorgen um dich gemacht. Ich meine, ich bin natürlich immer noch bitterböse auf dich, aber wenn du mir alles erzählst, werd ich’s wahrscheinlich verstehen. Das Essen war übrigens ziemlich nett, trotz aller Protzigkeit. Jelly war jenseits von Gut und Böse, aber Fergus hat aufgepaßt, daß er sich nicht zu sehr danebenbenimmt. Und du wirst lachen, wenn ich dir das dicke Ende erzähle: Ich konnte nicht in unsere Wohnung rein. Ich hatte im Büro die Handtasche gewechselt und meine Schlüssel in der anderen gelassen, weil ich ja dachte, mein treusorgender Ehemann würde zur Stelle sein, um mich heimzubringen und mich auch sonst zu verarzten. Paula war auf der Piste, was hieß, daß ich an ihren Schlüssel auch nicht rankam und mir nichts anderes übrigblieb als eine Nacht in Brown’s Hotel (ich hoffe doch stark, auf Kosten der Zeitung!), und heute – was mir eigentlich grade noch gefehlt hat, aber ich dachte, ich mach’s mal lieber, nachdem du mich so schmählich im Stich gelassen hast – habe ich mich breitschlagen lassen, als brave kleine Pfadfinderin mitzufahren in irgend so ein nobles Landhaus in Sussex, wo Fergus einer Horde von feudalen Anzeigenkunden einen Vortrag hält. Hinterher gibt es offenbar eine kleine Feier mit ein paar hohen Tieren aus der Branche, da dachte ich, das tut mir vielleicht mal ganz gut. Diesen Leuten in einem nicht so förmlichen Rahmen zu begegnen, meine ich. Sir Matt kommt auch, für den Anstandswauwau ist also gesorgt. Jetzt bin ich aber erst mal auf dem Weg ins Büro. Um meine Sachen zu holen. Und um mich mal wieder in rasender Eile umzuziehen. Dann also bis bald. Heute vielleicht nicht mehr, aber allerspätestens morgen. Wobei ich natürlich nach wie vor stinkwütend auf dich bin. Das heißt, du wirst dir die großartigsten Wiedergutmachungen einfallen lassen müssen. Und bitte mach dir keine Gedanken wegen gestern abend: Ich versteh’s ja. Auch wenn ich’s nicht so zeige. Ciao. Ach, und du kannst mich dort nicht erreichen – Handy-Verbot, so wie’s aussieht. Wenn’s also irgendwie brennt, ruf Paula an. Also dann, tschüs.
Hannah, Samstag, 10.14: SALVO? Salvo? (Die Stimme schon auffallend leise) Warum hast du dich nicht … (Noch leiser, statt Englisch jetzt verzweifeltes Swahili) … Du hast es versprochen, Salvo … o mein Gott … mein Gott! (Stimme nicht mehr hörbar)
Säße ich jetzt im Chatroom oder wieder im Heizungskeller, würde ich entweder ein defektes Mikrophon vermuten oder aber eine Zielperson, die ihre Stimme ganz bewußt gesenkt hat. Die Verbindung ist noch da. Hintergrundgeräusche sind zu hören, verzerrt, Schritte, durcheinanderredende Stimmen auf dem Gang vor ihrem Zimmer, aber im Vordergrund nichts. Ich schließe daher, daß Hannah mit hängenden Armen dasteht und schluchzt – und noch dreiundfünfzig Sekunden weiterschluchzt, bevor sie an das Telefon in ihrer Hand denkt und ausschaltet. Ich wähle ihre Nummer und gerate an die Mailbox. Ich rufe im Krankenhaus an. Eine unbekannte Stimme teilt mir mit, daß das Personal während der Nachtschicht keine privaten Anrufe entgegennehmen darf. Der Bus füllt sich. Zwei Wanderinnen beäugen erst mich, dann die rote Sporttasche im Gepäcknetz über mir. Sie setzen sich ganz nach vorn, wo es sicherer ist.
14
Rücksicht auf meine schlummernden Nachbarn ich die Treppe auf Zehenspitzen hoch, die rote Nylontasche wie ein Baby auf dem Arm, um damit nur ja nicht gegen das Geländer zu stoßen. Im Hochsommer sind die Samstage im Prince of Wales Drive unberechenbar. Einmal wird die halbe Nacht gefeiert, bis Penelope, wenn sie denn daheim ist, am Telefon die Polizei beschimpft und mit einem Artikel über mangelnde Polizeipräsenz droht. Ein andermal – sei es wegen der Schulferien, wegen der Bombenpanik oder weil heutzutage jeder ein Wochenendhaus hat – hört man, wenn man auf die Norfolk Mansions zugeht, nur die eigenen Schritte und das Indianergeheul der Eulen im Battersea Park. Doch jetzt hatte ich ohnehin nur einen Laut im Ohr, und das war Hannahs erstickte Stimme am Telefon.
Wie üblich widersetzte sich mir das Schloß der Wohnungstür, was ich an diesem Abend als symbolisch empfand. Wie üblich mußte ich den Schlüssel ein paar Millimeter herausziehen, hin und her ruckeln, es ein zweites Mal versuchen. Als ich in der Diele stand, kam ich mir vor wie mein eigener Geist. Seit meinem Tod hatte sich nichts verändert. Das Licht brannte, wie nicht anders zu erwarten. Ich hatte es nicht ausgemacht, als ich kurz hereingestürmt war, um mir den Smoking anzuziehen, und Penelope war in der Zwischenzeit nicht wieder zu Hause gewesen. Nachdem ich mir die verhaßten Schuhe von den Füßen geschleudert hatte, zog es mich zu dem minderwertigen Stich von Tintagel Castle, der seit fünf Jahren unbeachtet in der düstersten Ecke der Diele hing. Penelopes Schwester hatte ihn uns zur Hochzeit geschenkt. Die Schwestern konnten einander nicht ausstehen. Keine hatte irgendeine Beziehung zu Tintagel. Sie waren nie dagewesen, wollten nie hinfahren. Manche Geschenke sagen alles.
Im ehelichen Schlafzimmer riß ich mir die Sträflingskleidung herunter und beförderte sie mit einer Mischung aus Ekel und Erleichterung in den Wäschekorb. Den zusammengerollten Smoking stopfte ich gleich hinterher. Vielleicht konnte Thorne the Horn dafür Verwendung finden, falls er sich zu einer Diät aufschwang. Als ich mein Rasierzeug aus dem Badezimmer holte, stellte ich mit einer gewissen Befriedigung fest, daß der blaue Kulturbeutel mit dem Teddybären, Penelopes Pressemappe, wie sie kokett dazu sagt, nicht in seinem Fach stand: Was eine Frau nicht alles braucht für einen Tag in Suffolk mit einer Horde feudaler Anzeigenkunden!