Ich war überwach und übermüdet zugleich. In der Hochsaison für Selbstmordattentate tiefnachts ein Bett zu finden ist kein Kinderspiel für Zebras, die große Koffer hinter sich herziehen. Um so glücklicher schätzte ich mich, als mir ein hilfsbereiter Polizist, nachdem er mich aus dem langsam fahrenden Streifenwagen heraus unter die Lupe genommen hatte, den Weg zu einer Pension in einer Seitenstraße der Kilburn High Road wies, einem flutlichtbeleuchteten Gebäude im Pseudo-Tudorstil, dessen Tür, so der cricketversessene Besitzer Mr. Hakim, jedem offenstand, der sich an die Spielregeln hielt, unabhängig von Uhrzeit oder Hautfarbe. Gegen Barzahlung im voraus – Maxies Dollar, in Pfund umgewechselt – wurde ich stolzer Mieter der Managersuite, eines geräumigen Doppelzimmers im rückwärtigen Teil des Hauses mit Kochnische und einem Erkerfenster, das auf einen handtuchgroßen Gemüsegarten hinausging.
Inzwischen war es nach drei Uhr morgens, aber welcher Mann, der ausgezogen ist, die Frau seines Lebens zurückzugewinnen, denkt schon an Schlaf? Kaum hatte Mr. Hakims üppige Gemahlin die Tür hinter sich geschlossen, als ich auch schon mit aufgesetztem Kopfhörer, den Kassettenrecorder in der Hand, im Zimmer auf- und abtigerte. Das S stand tatsächlich für Satellit. Und Philip hatte reichlich Gebrauch davon gemacht. Er redete mit der Stimme, die ermächtigt war, ja zu sagen. Und die Stimme, die da ja sagte, gehörte zu meiner Bestürzung keinem anderen als meinem langjährigen Helden, der Nemesis von Penelopes großer Tageszeitung, Lord Brinkley of the Sands, auch wenn mich sein rechtschaffen empörter Ton noch hoffen ließ. Anfangs schien er regelrecht fassungslos:
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Philip. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich jetzt denken, das ist einer von Tabbys Tricks.«
Und als Philip ihm mitteilt, daß der Deal andernfalls platzt:
»So etwas Unmoralisches habe ich im Leben noch nicht gehört. Gilt denn ein Handschlag unter Männern gar nichts mehr? Und er will sich nicht einmal auf eine Anzahlung einlassen, sagen Sie? Er will alles im voraus? Kommt nicht in Frage. Reden Sie ihm das aus.«
Und als Philip beteuert, daß sie das schon mit allen erdenklichen Mitteln probiert haben, klingt Brinkley wie die gekränkte Unschuld in Person:
»Der Junge ist verrückt geworden. Ich werde mit seinem Vater reden. Also gut, geben Sie ihm, was er verlangt. Aber verrechenbar mit künftigen Einnahmen – und wir werden vom ersten Tag an alles daransetzen, es uns wieder zurückzuholen! Sagen Sie ihm das bitte, Philip. Ich bin offengestanden enttäuscht von Ihnen. Und von ihm auch. Wenn ich Sie nicht kennen würde, käme ich noch auf die Idee, mich zu fragen, wer hier mit wem Spielchen treibt.«
* * *
Um siebzehn Minuten nach acht kam ein junger Mann im weißen Kittel die Krankenhaustreppe heruntergeflattert, gefolgt von zwei Nonnen im grauen Ordenskleid. Um zwanzig nach erschien ein ganzes Knäuel von Pflegekräften, Männern und Frauen, die meisten von ihnen Schwarze. Aber irgendwie hatte ich es im Gefühl, daß sich Hannah, wiewohl sonst ein geselliger Mensch, heute abseits halten würde. Um acht Uhr dreißig quoll der nächste Trupp heraus. Sie waren ein lustiger Haufen, und Hannah hätte gut dazugepaßt. Aber nicht heute. Um acht Uhr vierzig kam sie, allein, in der verkrümmten Haltung all derer, die im Gehen ihre Mailbox abhören. Sie trug ihre Schwesterntracht, aber ohne die Haube. Bisher kannte ich sie nur in der Tracht oder nackt. Ihre Stirn war gefurcht, auf die gleiche konzentrierte Weise wie beim Pulsmessen – oder bei der Liebe. Auf der untersten Stufe blieb sie stocksteif stehen, ohne sich um die Herauf- und Herabkommenden zu kümmern, die sich an ihr vorbeischieben mußten – erstaunlich bei einer so rücksichtsvollen Frau, aber mich erstaunte es nicht.
Sie blieb stehen und starrte vorwurfsvoll auf ihr Handy. Ich dachte schon, gleich würde sie es schütteln oder angeekelt wegwerfen. Schließlich aber drückte sie es, ihm den langen Hals entgegenneigend, wieder ans Ohr, und ich wußte, nun hörte sie die letzte der acht Nachrichten ab, die ich ihr im Lauf der Nacht auf Band gesprochen hatte. Sie hob den Kopf und ließ die Hand mit dem Telefon sinken, wahrscheinlich auch jetzt wieder, ohne es auszuschalten. Als ich bei ihr war, fing sie an zu lachen, doch als ich sie an mich zog, weinte sie. Und im Taxi weinte sie weiter, und dann lachte sie wieder, genau wie ich, lachend und weinend bis zu Mr. Hakims Pension, wo uns, kaum daß wir angekommen waren, die Scheu wahrer Liebender überkam, so daß wir einander loslassen und getrennt den gekiesten Vorplatz überqueren mußten. Beide wußten wir, daß Erklärungen anstanden und wir den Weg zueinander mit Bedacht gehen mußten. Deshalb hielt ich ihr förmlich die Zimmertür auf und machte einen Schritt zur Seite, damit sie aus freien Stücken eintreten konnte, nicht auf mein Geheiß. Was sie nach sekundenlangem Zögern auch tat. Ich folgte ihr hinein und sperrte hinter uns ab, aber sie rührte sich nicht vom Fleck, weshalb auch ich mich bezwang und sie nicht in den Arm nahm.
Ich möchte allerdings hinzufügen, daß ihre Augen die meinen nicht eine Sekunde losließen. Ihr Blick war weder vorwurfsvoll noch feindselig, sondern vielmehr so gründlich und forschend, daß ich mich fragte, wie viel von meiner Aufgewühltheit sie mir wohl ansah; schließlich hatte sie tagein, tagaus mit Männern in Nöten zu tun und verstand es, in ihren Gesichtern zu lesen. Und nachdem ihre Inspektion abgeschlossen war, nahm sie mich bei der Hand und führte mich durch das Zimmer, wie um die Verbindung zwischen mir und meinen Sachen herzustellen: Tante Imeldas Medaillon, meines Vaters Meßbuch und was ich sonst noch mitgebracht hatte, ehe sie sich – weil einer Diplomschwester nichts an ihrem Patienten so leicht entgeht – den hellen Streifen an meinem linken Ringfinger besah. Und dann hatte sie, wie durch Osmose, so kam es mir vor, plötzlich einen meiner vier Stenoblöcke in der Hand – ausgerechnet den dritten, in dem Maxies Kriegsplan detailliert ausgeführt war – und verlangte, fast wie Philip sechzehn Stunden zuvor, nach Erklärungen, die ich ihr aber jetzt noch nicht geben mochte, da die Strategie, die ich mir für ihre Einweihung zurechtgelegt hatte,
ein ausgeklügeltes Timing vorsah, getreu den hohen Prinzipien des Geheimdienstgewerbes.
»Was heißt das hier?« Mit sicherem Instinkt zeigte sie auf eine meiner komplizierteren Hieroglyphen.
»Kivu.«
»Du hast über Kivu geredet?«
»Das ganze Wochenende. Beziehungsweise meine Auftraggeber haben über Kivu geredet.«
»In einem positiven Sinn?«
»Eher in einem … kreativen.«
Der Keim war gelegt, wenn auch nicht sehr fachmännisch. Sie schwieg, dann lächelte sie traurig. »Wer könnte heutzutage etwas Kreatives über Kivu sagen? Keiner vielleicht. Aber Baptiste sagt, die Wunden beginnen allmählich zu verheilen. Wenn es so weitergeht, wird es im Kongo vielleicht eines Tages Kinder geben, die keinen Krieg kennen. In Kinshasa sprechen sie jetzt sogar ernsthaft von Wahlen, sagt er.«
»Baptiste?«
Sie schien mich nicht gleich zu hören, so vertieft war sie in meine Keilschrift. »Baptiste ist der inoffizielle Vertreter des Mwangaza in London«, sagte sie dann und gab mir den Block zurück.
Während ich noch darüber nachsann, was von der Existenz eines Baptiste in ihrem Leben zu halten war, stieß sie plötzlich einen kleinen Bestürzungsruf aus, den ersten und einzigen, den ich aus ihrem Mund gehört habe. Sie hielt Maxies Umschlag mit den sechstausend Dollar in die Höhe, die ich noch nicht in Pfund umgetauscht hatte, und ihre anklagende Miene sprach Bände.
»Hannah, das ist nicht gestohlen. Das ist verdient. Von mir. Redlich.«
»Redlich?«
»Na ja, auf jeden Fall legal. Das Geld stammt vom …« – fast hätte ich »vom britischen Staat« gesagt, aber Mr. Anderson zuliebe korrigierte ich mich – »von den Auftraggebern, für die ich dieses Wochenende gearbeitet habe.« Ihr notdürftig besänftigtes Mißtrauen flackerte erneut auf, als sie auf dem Kaminsims die Visitenkarten von Brian Sinclair entdeckte. »Brian ist ein Freund von mir«, beteuerte ich halbherzig. »Du kennst ihn übrigens auch. Ich erzähle dir später von ihm.«