»Und nach der Kirche?« fragte ich. »Wenn du dich auf die Pirsch nach Baptiste begibst, wie finde ich dich dann?«
An ihrer verschlossenen Miene sah ich, daß sich wieder die kulturelle Kluft zwischen uns aufgetan hatte. Hannah war vielleicht unbewandert in den dunklen Künsten des Chatrooms, aber was wußte Salvo schon von der kongolesischen Gemeinde in London oder von den Schlupfwinkeln ihrer Wortführer?
»Baptiste ist erst vor einer Woche aus den Vereinigten Staaten zurückgekommen. Er hat eine neue Adresse und vielleicht auch einen neuen Namen. Ich muß zuerst mit Louis reden.«
Denn Louis, so erfuhr ich, war Baptistes inoffizieller Stellvertreter im Europabüro des Pfades der Mitte. Er war außerdem ein enger Freund von Salomé, einer Freundin von Baptistes Schwester Rose, die in Brüssel wohnte. Doch da Louis momentan untergetaucht war, hing alles davon ab, ob Rose schon wieder von der Hochzeit ihres Neffen in Kinshasa zurück war. Wenn nicht, könne sie sich möglicherweise bei Roses Geliebtem Bien-Aimé erkundigen, aber nur, wenn Bien-Aimés Frau nicht in der Stadt war.
Ich gab mich geschlagen.
* * *
Ich bin allein, auf mich gestellt bis heute abend. Um zu sehen, ob ich irgendwelche Nachrichten auf der Mailbox habe, muß ich mich getreu den strengen Agentenregeln, die ich mir nach dem Einbruch in die Norfolk Mansions auferlegt habe, erst einmal eine Meile von Mr. Hakims Haus entfernen. Ich gehe durch eine von Bäumen gesäumte Straße bis zu einem leeren Buswartehäuschen. Ich lasse mir Zeit, viel Zeit. Ich setze mich auf eine einsame Bank und schalte das Handy ein. Ich habe nur eine Nachricht, und zwar von Barney, Mr. Andersons feschem Adjutanten und hauseigenem Chatroom-Casanova. Von seinem Adlerhorst auf der Galerie genießt Barney freien Blick in jede Hörkabine und in jedes lohnende Dekolleté. Sein Anruf bei mir ist Routine. Überraschend wäre, wenn er nicht angerufen hätte, aber er hat. Ich höre mir die Nachricht zweimal an.
Hallo, Salv. Wo zum Geier stecken Sie? Ich hab’s schon in Battersea probiert, aber da hab ich von Penelope ganz schön was zu hören bekommen. Wir hätten den üblichen Schrott für Sie – was eben so anfällt. Nichts Weltbewegendes, aber trotzdem. Melden Sie sich einfach so bald wie möglich, und geben Sie Laut, wann Sie bei uns reinschauen können, okay? Also dann, tschüs.
Mit seiner ach so unschuldigen Nachricht hat Barney mich zutiefst mißtrauisch gemacht. Cool war er immer schon, aber heute morgen ist er so megacool, daß ich ihm kein Wort abkaufe. So bald wie möglich. Warum so eilig, wenn es doch nur um den üblichen Schrott geht? Oder soll er mich, wie ich vermute, in den Chatroom locken, wo Philip und seine Spießgesellen schon auf mich warten, um mir die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen wie Haj?
Ich gehe weiter, energischeren Schrittes nun plötzlich. Der Drang, mich nach dem Brinkley-Debakel zu rehabilitieren und meine Scharte bei Hannah auszuwetzen, brennt in mir wie zuvor. Doch aus dem tiefsten Dunkel der Erniedrigung trifft mich ein Strahl der Erleuchtung.
Hat Hannah mir nicht selbst geraten, lieber zu Mr. Anderson als zu Seiner Lordschaft zu gehen? Und genau das werde ich tun! Ich werde mich mit ihm treffen, aber zu meinen Bedingungen, nicht zu Andersons und auch nicht zu Barneys. Die Entscheidung über Zeit und Ort liegt bei mir, nicht bei ihnen, genau wie die Wahl der Waffen. Und erst wenn jedes Detail stimmt, werde ich Hannah in meinen Plan einweihen.
Doch zuerst die praktische Seite angepackt. Weil ich Kleingeld brauche, kaufe ich in einem Supermarkt einen Guardian. Ich suche mir eine freistehende Telefonzelle. Sie hat Scheiben aus gehärtetem Glas, die dem Anrufer einen Rundumblick gewähren, und der Apparat nimmt Münzen an. Ich stelle mir die Umhängetasche zwischen die Füße. Ich räuspere mich, lockere meine verspannten Schultern und rufe, wie gewünscht, Barney zurück.
»Salv! Na, meine Nachricht gekriegt? Super! Wie wär’s, wenn Sie heute nachmittag eine Schicht einlegen und wir hinterher noch auf ein Bier gehen?«
Barney hat mich in seinem ganzen Leben noch nie auf ein Bier eingeladen, weder vor- noch hinterher, aber das lasse ich unkommentiert. Ich bin genauso cool wie er.
»Heute ist es bei mir ein bißchen schwierig, Barnes. Komplizierter juristischer Kram. Stinklangweilig, aber lukrativ. Ich könnte Sie morgen einschieben, wenn das okay wäre. Am liebsten etwas später, so zwischen vier und acht.«
Ich klopfe auf den Busch, wie mein genialer Plan es verlangt. Barney versucht, mich auszuhorchen, ich versuche, ihn auszuhorchen. Nur habe ich den Vorteil, daß ich Bescheid weiß und er nicht. Diesmal dauert es ein wenig länger, bis er antwortet. Vielleicht steht jemand neben ihm.
»Und wieso nicht heute, verdammt?« raunzt er. Schon ist es wieder vorbei mit dem Schmusekurs, der noch nie seine Stärke war. »Wimmeln Sie die Typen ab. Ein paar Stunden hin oder her können denen doch scheißegal sein. Wir haben schließlich die älteren Rechte an Ihnen, dafür bezahlen wir Sie. Und wo treiben Sie sich überhaupt rum?«
Er weiß ganz genau, wo ich bin. Er hat meinen Standort vor sich auf dem Bildschirm, wieso fragt er also? Will er Zeit schinden, während er sich beraten läßt?
»In einer Telefonzelle«, lamentiere ich fröhlich. »Mein Handy spinnt mal wieder.«
Erneut läßt er mich warten. Barney in Zeitlupe.
»Okay, nehmen Sie sich ein Taxi. Können Sie auf die Spesenrechnung setzen. Der Boß will Sie an sein Herz drücken. Behauptet, Sie hätten übers Wochenende die Nation gerettet, sagt aber nicht, wie.«
Mein Herz macht einen doppelten Salto. Barney spielt mir genau in die Hände! Aber ich bleibe gelassen. Ich bin nicht impulsiv. Mr. Anderson wäre stolz auf mich.
»Bei mir geht es frühestens morgen nachmittag, Barney«, sage ich ruhig. »Dann kann mich der Boß immer noch an sein Herz drücken.«
Diesmal kommt die Reaktion prompt.
»Sie haben sie wohl nicht mehr alle! Morgen ist Mittwoch, Mann. Heiligabend!«
Mein Herz vollführt regelrechte Bocksprünge, aber ich lasse mir meinen Triumph nicht anmerken.
»Dann eben Donnerstag oder gar nicht, Barnes. Es sei denn, es ist eine Sache auf Leben und Tod, und das ist es ja nicht, sagen Sie. Tut mir leid, aber so sieht’s aus.«
Ich lege auf. Gar nichts tut mir leid, im Gegenteil. Morgen ist Heiligabend, und wie es die Legende will, hat Mr. Anderson seit zwanzig Jahren keinen Heiligabend verpaßt. Da können Philip und seine Männer ihm die Tür eintreten, da können wichtige Stenoblöcke den Flammen entrinnen oder Tonkassetten verschwinden – egaclass="underline" Am Mittwochabend ist Chorprobe in Sevenoaks, und Mr. Anderson ist die Stütze des ersten Basses.
Der erste Schritt wäre geschafft. Ich widerstehe der Versuchung, Hannah auf Grace’ Handy anzurufen und ihr von meinem begnadeten Schachzug zu erzählen, wähle statt dessen die Nummer der Auskunft und bin Sekunden später mit der Feuilletonredakteurin des Sevenoaks Argus verbunden. Ich hätte da einen Onkel, beginne ich listig. Er singe im Chor von Sevenoaks im ersten Baß. Morgen habe er Geburtstag. Ob sie mir wohl freundlicherweise verraten könne, wo und wann sich der Chor Mittwoch abends treffe?
Hm. Aha. Ja und nein. Ob ich ihr vielleicht sagen könne, ob mein Onkel zu den Autorisierten oder den Unautorisierten gehöre?
Ich bekenne, damit überfragt zu sein.
Das freut sie. Sevenoaks, so erklärt sie, habe nämlich das seltene Glück, sich gleich mit zwei Chören schmücken zu können. Das landesweite Singfest in der Royal Albert Hall finde in drei Wochen statt. Beide Chöre hätten sich angemeldet, beide würden als Geheimtip für einen Preis gehandelt.
Ob sie mir eventuell den Unterschied erklären könne, bat ich.
Sie könne, aber es müsse unter uns bleiben. Autorisiert bedeute, im Umfeld einer anerkannten Kirche angesiedelt zu sein, vorzugsweise Church of England, aber nicht zwingend. Es bedeute, erfahrene Gesangslehrer und Chorleiter zu haben, aber keine Profis, weil dazu das Geld nicht reiche. Es bedeute ausschließlich heimische Talente und keine Gastsänger.