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»Hajs Lied. Das er gesungen hat, nachdem sie ihn gefoltert hatten.«

»Jetzt?«

»Jetzt.«

Da ich ihr nichts abschlagen mochte, holte ich die entsprechende Kassette aus dem Versteck.

»Hast du die Visitenkarte noch, die er dir gegeben hat?«

Ich reichte sie ihr. Sie betrachtete die Vorderseite und lächelte schwach über die Tiere. Dann drehte sie sie um und sah sich nachdenklich die Rückseite an. Sie setzte den Kopfhörer auf, schaltete den Kassettenrecorder ein und versank in ein unergründliches Schweigen. Ich faßte mich derweil in Geduld.

»Hast du deinen Vater geachtet, Salvo?« fragte sie, als sie sich das Band zweimal angehört hatte.

»Aber natürlich. Sehr sogar. Und du deinen doch sicher auch.«

»Haj achtet seinen Vater ebenfalls. Er ist Kongolese. Er achtet seinen Vater und gehorcht ihm. Glaubst du wirklich, er kann ohne einen Beweis in der Hand zu seinem Vater hingehen und zu ihm sagen: ›Vater, dein lebenslanger Freund und politischer Weggefährte, der Mwangaza, ist ein Lügner‹? Wo er doch nicht einmal die Spuren der Folter vorweisen kann, wenn seine Peiniger ihre Arbeit gut gemacht haben!«

»Hannah, bitte. Du bist todmüde, und du hattest einen furchtbaren Tag. Komm ins Bett.« Ich legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schob sie sacht beiseite.

»Er hat für dich gesungen, Salvo.«

Ich gab zu, daß das auch mein Eindruck gewesen war.

»Und was meinst du, was er dir damit sagen wollte?«

»Daß er überlebt hat. Und daß wir ihn am Arsch lecken sollen.«

»Und warum hat er dir dann seine E-Mail-Adresse gegeben? Die Schrift ist zittrig. Er hat sie dir aufgeschrieben, nachdem sie ihn gefoltert hatten, nicht vorher. Warum?«

Ich flüchtete mich in einen schlechten Witz. »Wahrscheinlich, weil er mit mir in seinen Nachtclubs einen draufmachen will.«

»Haj will dir sagen, daß du dich mit ihm in Verbindung setzen sollst, Salvo. Er braucht deine Hilfe. Er sagt: Hilf mir, schick mir deine Aufnahmen, schick mir die Beweise für das, was sie mir angetan haben. Er braucht die Beweise. Und er will sie von dir.«

War es Nachgiebigkeit meinerseits oder lediglich Taktik? Meiner festen Überzeugung nach war Haj ein Playboy, kein Ritter in schimmernder Rüstung. Französischer Pragmatismus und das süße Leben hatten ihn korrumpiert. Die drei Millionen Dollar bis Montag abend waren der Beweis dafür. Sollte ich ihre Illusionen zerstören oder mich lieber auf einen Handel mit ihr einlassen, aus dem mit einiger Sicherheit sowieso nichts werden würde?

»Du hast recht«, sagte ich. »Er will die Beweise. Wir schicken ihm die Aufnahmen. Anders geht es nicht.«

»Wie?« fragte sie mißtrauisch.

Es sei kinderleicht, versicherte ich ihr. Man brauche bloß irgendwen zu finden, der die technischen Möglichkeiten habe – einen Toningenieur zum Beispiel oder jemanden aus einem Plattenladen. Dann lasse man sich das Band in eine Audiodatei umwandeln und schicke es per E-Mail an Haj. Finito.

»Nein, Salvo, nicht finito.« Sie zog bedenklich die Stirn kraus, während sie versuchte, nun ihrerseits auf meinen Standpunkt umzuschwenken.

»Warum nicht?«

»Du begehst ein schweres Verbrechen. Haj ist Kongolese, und du willst ihm britische Geheimnisse verraten. Im Herzen bist du Brite. Lassen wir es lieber bleiben.«

Ich holte einen Kalender. Bis zu Maxies geplantem Coup seien es noch elf Tage, sagte ich und kniete mich neben sie. Es habe also keine extreme Eile, oder?

Wahrscheinlich nicht, pflichtete sie mir zweifelnd bei. Doch je mehr Zeit Haj blieb, desto besser.

Schon, aber ein paar Tage könnten wir auf jeden Fall noch warten, entgegnete ich listig. Sogar eine Woche würde nicht schaden, schob ich nach – ich dachte an das gemächliche Tempo, in dem Mr. Anderson seine Wunder vollbrachte.

»Eine Woche ? Wieso sollen wir eine Woche warten?« Wieder runzelte sie die Stirn.

»Weil wir es ihm dann vielleicht gar nicht mehr schicken müssen. Vielleicht bekommen sie kalte Füße. Sie wissen ja, daß wir an der Sache dran sind. Vielleicht blasen sie das Ganze noch ab.«

»Und wie erfahren wir, daß sie es abgeblasen haben?«

Darauf hatte ich keine Antwort parat, und obwohl sie den Kopf auf meine Schulter gelegt hatte, war unser Schweigen nicht sehr behaglich.

»In vier Wochen hat Noah Geburtstag«, sagte sie unvermittelt.

»Ich weiß. Wir wollen ihm doch zusammen ein Geschenk aussuchen.«

»Am meisten wünscht er sich, seine Cousins und Cousinen in Goma zu besuchen. Ich möchte nicht, daß er in ein Kriegsgebiet fahren muß.«

»Das muß er auch nicht. Gib uns nur ein paar Tage. Nur für den Fall, daß sich noch etwas tut.«

»Was denn zum Beispiel, Salvo?«

»Das sind schließlich nicht alles Monster. Vielleicht siegt die Vernunft ja doch«, beharrte ich, woraufhin sie sich aufrichtete und mich mit einem Blick bedachte, den sie sonst vermutlich für Patienten bereithielt, die sie im Verdacht hatte, sie über ihre Symptome zu belügen.

»Fünf Tage«, insistierte ich. »Am sechsten schicken wir alles an Haj. Dann hat er immer noch genug Zeit. Mehr als genug, würde ich sagen.«

Danach kann ich mich nur noch an ein Gespräch erinnern, das später bedeutsam werden sollte. Wir liegen engumschlungen beieinander, unsere Sorgen scheinbar vergessen, als Hannah mir plötzlich von Grace’ Freund Latzi erzählt, dem verrückten Polen.

»Weißt du, womit er sein Geld verdient? Er arbeitet in Soho in einem Plattenstudio für Rockbands. Nachts werden die Aufnahmen eingespielt, morgens kommt er völlig bekifft nach Hause, und dann lieben sie sich den ganzen Tag.«

»Und?«

»Und? Ich kann ihn fragen. Er macht uns bestimmt einen guten Preis.«

Ich setze mich auf. »Hannah. Ich möchte nicht, daß du dich der Mittäterschaft schuldig machst. Wenn jemand Haj die Bänder schickt, dann ich.«

Sie sagt nichts, und ich nehme ihr Schweigen als Zustimmung. Wir verschlafen und müssen in fliegender Hast packen. Auf Hannahs Bitte laufe ich barfuß nach unten und frage Mr. Hakim, ob er uns ein Taxi rufen kann. Als ich zurückkomme, steht sie vor dem altersschwachen Kleiderschrank, in der Hand meine Umhängetasche, die in der Hektik aus dem Versteck gerutscht ist – aber, Gott sei Dank, ohne mein kostbares J’accuse!

»Komm, laß mich«, sage ich, recke mich und packe die Tasche wieder an ihren Platz zurück.

»Ach, Salvo«, sagt sie, was ich als Dankbarkeit deute.

Sie ist immer noch nicht fertig angezogen. Fatal, fatal.

* * *

Auf der Strecke Victoria-Sevenoaks waren zusätzliche Schnellbusse eingesetzt worden, für die vielen Bahnpendler, die der Schiene seit den Bombenanschlägen den Rücken gekehrt hatten. Die Pudelmütze tief in die Stirn gezogen, näherte ich mich vorsichtig der Warteschlange, mir meiner Hautfarbe nur allzu bewußt. Bis hierher war ich teils zu Fuß, teils mit dem Bus gekommen, wobei ich unterwegs zweimal in letzter Sekunde ausgestiegen war, um potentielle Verfolger abzuschütteln. Die Gegenaufklärung verlangt einem Agenten einiges ab. Als mich der Wachmann am Busbahnhof abtastete, wünschte ich mir fast, er möge mich erkennen und dem grausamen Spiel ein Ende machen. Aber an dem braunen Umschlag mit der Aufschrift J’accuse!, der gefaltet in der Innentasche meiner Lederjacke steckte, hatte er nichts auszusetzen. In Sevenoaks rief ich von einer Telefonzelle aus Grace an, die sich unter lautem Gelächter meldete. Die Busfahrt nach Bognor war nicht ohne Abenteuer abgelaufen.

»Du weißt noch, Amelia? Ihr ist unterwegs schlecht geworden, Salvo. Alles war voll, du würdest es nicht glauben. Der ganze Bus, ihr neues Kleid und die neuen Schuhe. Hannah und ich, wir stehen hier mit Wischmops und schütteln bloß noch den Kopf.«

»Salvo?« Das war Hannah.

»Ich liebe dich, Hannah.«

»Ich liebe dich auch, Salvo.«