Sie hatte mir die Absolution erteilt, jetzt konnte ich weitermachen.
* * *
Die St. Roderic’s School for Boys and Girls lag am grünen Rand der Altstadt von Sevenoaks. Zwischen Villen, in deren unkrautfreien, sauber gekiesten Einfahrten noble Neuwagen parkten, stand sie da wie eine Doppelgängerin des Herz-Jesu-Heims, mitsamt Türmchen, Zinnen und einer unheilverkündenden Uhr. Die Memorial Hall, ein Saal aus Glas und Backstein, war von dankbaren Eltern und ehemaligen Schülern gestiftet worden. Ein neonfarbener Pfeil wies die Besucher eine geflieste Treppe hinauf. Im Kielwasser korpulenter Damen gelangte ich auf eine Holzempore und setzte mich neben einem älteren Geistlichen mit ähnlich wohlfrisiertem weißen Haupt wie Philip. Unter uns, hufeisenförmig angeordnet, hatte der sechzig Mann starke Chor von Sevenoaks Aufstellung genommen – der autorisierte, wohlgemerkt. Ein Mann mit Samtjacke und Fliege erteilte seinen Schäfchen von einem Podest aus eine Lektion zum Thema Entrüstung.
»Sie zu fühlen ist schön und gut. Aber man muß sie auch hören. Denken wir es doch rasch einmal durch. Die Geldverleiher haben sich im Hause Gottes breitgemacht. Gibt es etwas Schlimmeres? Kein Wunder, daß wir entrüstet sind. Wer wäre das nicht? Also bitte: reichlich Entrüstung. Und sehr sachte mit den S, vor allem die Tenöre. Nun denn, noch einmal von vorn, wenn ich bitten darf.«
Und ob er durfte. Mr. Anderson warf sich mit dem Ausdruck schönster Entrüstung in die Brust, machte den Mund auf und sah mich – aber so direkt und ausschließlich, daß man hätte meinen können, ich sei der einzige Mensch im Saal, und auf der Empore gleich gar. Und dann klappte er den Mund wieder zu. Alles um ihn herum sang, und der Mann auf dem Podest fuchtelte so selbstvergessen mit seinen dünnen Ärmchen, daß er gar nicht mitbekam, daß Mr. Anderson,
der aus der Reihe ausgeschert war, plötzlich neben ihm stand, puterrot vor Verlegenheit. Dem Chor aber war es nicht entgangen, und allmählich erstarb der Gesang. Was sich zwischen Mr. Anderson und seinem Chorleiter abspielte, werde ich nie erfahren, denn ich war längst die Treppe wieder hinuntergegangen und hatte mich vor den Türen zum großen Saal postiert. Zu mir gesellten sich eine ältliche Frau im Kaftan und eine stämmige Jugendliche, die, wenn man sich das grüne Haar und die Augenbrauenpiercings wegdachte, ihrem ehrwürdigen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sekunden später schob sich die massige Gestalt von Mr. Anderson selbst durch die Tür. Er sah an mir vorbei, als ob ich nicht existierte, und wandte sich im Befehlston an seine Damen.
»Mary, ich muß euch bitten, nach Hause zu fahren und dort auf mich zu warten. Ginette, mach nicht so ein Gesicht. Nehmt bitte den Wagen, Mary. Wenn nötig, werde ich schon ein anderes Transportmittel finden.«
Die halbwüchsige Ginette, deren schwarzumrandete Augen mich beschworen, die Schmach zu bezeugen, die man ihr antat, ließ sich von ihrer Mutter hinausführen. Erst jetzt geruhte Mr. Anderson, mich zur Kenntnis zu nehmen.
»Salvo. Sie sind in meine Chorprobe geplatzt.«
Ich hatte meine Rede parat. Darin wollte ich meine Wertschätzung für ihn und meinen Respekt für seine hehren Prinzipien zum Ausdruck bringen und ihn daran erinnern, wie oft er mir gesagt hatte, ich solle meine Sorgen nicht in mich hineinfressen, sondern gleich damit zu ihm kommen. Doch für diese Rede war der Zeitpunkt nicht der richtige.
»Es geht um den Coup, Sir. Mein Auftrag übers Wochenende. Er ist überhaupt nicht im nationalen Interesse. Es ist ein Komplott gegen den Kongo.«
An den Wänden des grüngekachelten Korridors hingen Bilder von Schülern. Die ersten beiden Türen waren abgeschlossen. Die dritte ging auf. Am anderen Ende des Klassenzimmers standen sich zwei Tische gegenüber und hinter ihnen an der Tafel mein schlechtestes Fach: Algebra.
* * *
Mr. Anderson hat sich angehört, was ich zu sagen hatte.
Ich habe mich kurz gefaßt, so wie er, der Vielredner, es bei anderen schätzt. Die Ellenbogen auf dem Tisch, das formidable Kinn auf die gefalteten Hände gestützt, hat er mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, auch nicht, als ich mich an das heikle moralische Labyrinth herantastete, das seine ureigene Domäne ist: individuelles Gewissen contra höheres Ziel. Mein J’accuse! liegt vor ihm. Er setzt die Lesebrille auf und greift in seine Jacke, nach dem silbernen Drehbleistift.
»Und der Titel ist von Ihnen, Salvo? Sie klagen mich an.«
»Nicht Sie, Mr. Anderson. Die anderen. Lord Brinkley, Philip, Tabizi, das Syndikat. Die Leute, die den Mwangaza benutzen, um sich persönlich zu bereichern, und die zu diesem Zwecke sogar einen Krieg in Kivu anzetteln.«
»Und das steht alles hier drin? Schwarz auf Weiß. Von Ihnen aufgeschrieben.«
»Nur zu Ihrer persönlichen Verwendung, Sir. Es gibt keine Kopie.«
Die Spitze des silbernen Bleistifts begann seine bedächtige Wanderung über das Papier.
»Sie haben Haj gefoltert«, fügte ich hinzu. Das mußte ich unbedingt sofort loswerden. »Mit einem Elektroschocker. Den Spider gebaut hat.«
Ohne sich beim Lesen stören zu lassen, sah Mr. Anderson sich gezwungen, mich zu korrigieren. »Folter ist ein sehr emotionsgeladener Begriff, Salvo. Ich würde zurückhaltend damit umgehen. Mit dem Begriff, meine ich.«
Danach zügelte ich meine Ungeduld, während er las und die Stirn runzelte, sich hier eine Anmerkung an den Rand kritzelte, dort tadelnd mit der Zunge schnalzte, wenn ihm etwas an meinem Stil nicht gefiel. Einmal blätterte er ein paar Seiten zurück, um eine Textstelle mit einem vorangegangenen Absatz zu vergleichen, und schüttelte den Kopf. Und als er die letzte Seite gelesen hatte, fing er wieder von vorn an, beim Titel. Er befeuchtete seinen Daumen und studierte noch einmal den Schluß, wie um sich zu überzeugen, daß er auch nichts übersehen oder unberücksichtigt gelassen hatte, bevor er zur Notengebung schritt.
»Und was haben Sie mit diesem Schriftstück vor, wenn ich fragen darf, Salvo?«
»Nichts, Sir. Es ist für Sie, Mr. Anderson.«
»Und was soll ich damit machen?«
»Ganz nach oben gehen, Sir. Zum Außenminister oder in die Downing Street, wenn es sein muß. Man kennt Sie als einen Mann von Gewissen. Ethische Grenzfälle sind Ihr Spezialfach, wie Sie mir einmal gesagt haben.« Und als er nicht antwortete: »Es geht allein darum, die Operation zu stoppen. Wir verlangen nicht, daß irgendwelche Köpfe rollen. Wir stellen niemanden bloß. Aber die Operation muß gestoppt werden!«
»Wir?« wiederholte er. »Wer ist denn auf einmal wir?«
»Sie und ich, Sir«, antwortete ich, auch wenn ich ein anderes Wir im Sinn gehabt hatte. »Und diejenigen von uns, die nicht wußten, daß dieses ganze Projekt durch und durch verwerflich ist. Wir werden Menschen retten, Mr. Anderson. Hunderte, vielleicht Tausende. Auch Kinder.« Und diesmal dachte ich an Noah.
Mr. Anderson legte die Hände flach auf J’accuse!, als ob ich es ihm jeden Augenblick, wegreißen würde. Nichts hätte mir ferner gelegen. Er atmete tief durch, und in meinen Ohren klang es ein wenig zu sehr nach einem Seufzer.
»Sie waren sehr fleißig, Salvo. Sehr gewissenhaft, wenn ich das sagen darf, aber etwas anderes hätte ich von Ihnen auch gar nicht erwartet.«
»Das war ich Ihnen schuldig, Mr. Anderson.«
»Daß Sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben, ist jedem klar, der Ihre Arbeit kennt.«
»Danke, Mr. Anderson.«
»Sie zitieren hier längere Passagen wortwörtlich. Ebenfalls aus dem Gedächtnis?«
»Nicht ganz, nein.«
»Hätten Sie dann vielleicht die Güte, mir zu verraten, auf welche anderen Quellen Sie diese – Anklage stützen?«
»Das Rohmaterial, Mr. Anderson.«
»Und wie roh wäre das?«
»Die Bänder. Nicht alle. Nur die wichtigsten.«
»Und was genau ist auf den Bändern?«
»Die Verschwörung. Der Volksanteil. Wie Haj gefoltert wird. Wie Haj Kinshasa anklagt. Wie Haj sich kaufen läßt. Wie Philip über Satellit nach London telefoniert.«
»Um wie viele Bänder geht es hier, Salvo? Bitte die Gesamtzahl.«