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Die Hand, mit der er mich hatte festnehmen wollen, war abwehrend erhoben. Ich griff langsam nach der Klinke, um ihn nicht zu erschrecken. Ich entfernte den Akku aus seinem Handy und steckte ihm den Apparat in die Jackentasche. Zuletzt zog ich die Tür hinter mir zu, weil ich nicht wollte, daß andere Menschen meinen letzten Mentor in seiner bedauernswerten Verfassung sahen.

* * *

Wo ich mich in den nächsten Stunden aufhielt, was ich tat, daran habe ich nur vage Erinnerungen, und schon damals nahm ich es nur verschwommen wahr. Ich weiß, daß ich die Schuleinfahrt hinunterging, erst langsam, dann schneller, daß ich an einer Haltestelle stand und, als nicht gleich ein Bus kam, auf die andere Straßenseite hinüberwechselte und in den Bus in die entgegengesetzte Richtung stieg, was man nicht gerade als unverdächtiges Verhalten bezeichnen kann; daß ich mich danach hakenschlagend und im Zickzackkurs querfeldein bewegte, nicht nur, um echte oder eingebildete Verfolger abzuschütteln, sondern vor allem auch den Anblick Mr. Andersons; und daß ich in Bromley einen späten Zug zur Victoria Station nahm, von da mit dem Taxi bis zum Marble Arch fuhr und mit einem zweiten zu Mr. Hakims Pension, alles bezahlt mit Maxies großzügiger Prämie. Und daß ich am Bahnhof Bromley South, wo ich zwanzig Minuten auf den Zug warten mußte, aus einer Telefonzelle Grace anrief.

»Willst du mal was total Verrücktes hören, Salvo?«

Höflich, wie ich bin, wollte ich.

»Ich bin heute von einem Esel geplumpst! Voll auf den Hintern, vor den ganzen kreischenden Kids! Amelia ist oben geblieben, ich bin runtergefallen. Und der Esel, Salvo, der hat Amelia bis zur Eisbude am Strand auf sich reiten lassen, und Amelia hat dem Esel mit ihrem Taschengeld ein Eis gekauft, und der Esel hat das Eis ganz aufgefressen, und dann hat er Amelia wieder bis zu uns zurückgeschleppt! Kein Scheiß, Salvo! Was meinst du, was ich für blaue Flecken am Allerwertesten habe? Du würdest es nicht glauben, auf beiden Backen! Latzi lacht sich bestimmt tot, wenn er das sieht!«

Latzi, ihr polnischer Freund aus der Musikbranche, fiel es mir flüchtig wieder ein. Latzi, der Hannah einen guten Preis machen würde.

»Soll ich dir noch was erzählen, Salvo?«

Wann dämmerte mir, daß sie mich hinhielt?

»Wir waren im Kasperltheater, okay?«

Okay, antwortete ich.

»Und unsere Kids, die waren hin und weg. Ich hab noch nie so viele glückliche Kinder gesehen, die vor Angst dermaßen die Hosen voll hatten.«

Toll. Kinder lieben es, wenn man ihnen angst macht, sagte ich.

»Und das Café auf der Herfahrt, Salvo – wo wir Rast gemacht haben, weil sie uns in dem anderen nicht haben wollten, weil wir Neger sind? Die waren so was von nett. Wir können also echt nicht meckern.«

Wo ist sie, Grace?

»Hannah?« – als ob sie sich gerade erst an sie erinnert hätte. »Ach, Hannah, die ist mit den Großen ins Kino gegangen, Salvo. Wenn du anrufst, soll ich dir ausrichten, daß sie dich so bald wie möglich zurückruft. Vielleicht morgen früh – heute wird’s sicher zu spät. Hannah und ich, wir sind nämlich bei verschiedenen Familien untergebracht. Und mein Handy brauch ich hier, wegen Latzi.«

Aha.

»Wenn Latzi mich nicht erreicht, springt er im Dreieck. Und wo Hannah wohnt, da gibt es zwar ein Telefon, aber es ist besser, wenn du sie nicht anrufst. Es steht nämlich im Wohnzimmer, wo die ganze Familie vor dem Fernseher hockt. Sie meldet sich, sobald sie kann. Wolltest du irgendwas Bestimmtes, Salvo?«

Ihr sagen, daß ich sie liebe.

»Hm, kann es sein, daß sie das schon mal gehört hat, Salvo, oder ist das ganz was Neues?«

Ich hätte sie fragen sollen, in welchen Film Hannah mit den Großen gegangen war, dachte ich, nachdem ich aufgelegt hatte.

* * *

Ich hatte nicht gewußt, wie rasch mir unser kleines Hinterzimmer zum Zuhause geworden war. In wenigen Tagen hatte es all meine Jahre in den Norfolk Mansions verdrängt. Als ich hereinkam, duftete es nach Hannah, als ob sie noch da wäre, nicht nach einem Parfüm, nur nach ihr. In kameradschaftlicher Verbundenheit begrüßte ich das zerwühlte Bett, unsere ramponierte Triumphstätte. Nichts von dem, was sie zurückgelassen hatte, entging meinem schuldbeladenen Blick: ihr Afrokamm, die Armbänder, die sie in den letzten Minuten ihres verspäteten Aufbruchs gegen einen Reif aus Elefantenhaar ausgetauscht hatte, unsere halbleeren Teetassen, das Photo von Noah auf dem wackeligen Nachttisch, das mir während ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten sollte, und das Regenbogenhandy für ihre Liebesbotschaften, auf dem sie mir mitteilen wollte, wann ich sie schätzungsweise zurückerwarten konnte. Warum ich es nicht mitgenommen hatte? Weil ich nichts bei mir haben wollte, womit ich sie im Falle meiner Festnahme belasten würde. Wie lange noch, bis ich es ihr zurückgeben konnte? Eigentlich sollten die Eltern ihre Sprößlinge um ein Uhr mittags an der Kirche in Empfang nehmen, aber Hannah hatte mich gewarnt: Ein einziges ungezogenes Kind wie Amelia, das sich versteckt hatte, ein Bombenalarm oder eine Straßensperre, und schon würde aus Mittag Abend werden.

Ich hörte mir die Zehn-Uhr-Nachrichten an und überprüfte im Internet die Steckbriefe der meistgesuchten Verbrecher, immer darauf gefaßt, auf mein Photo nebst einer politisch korrekten Beschreibung meiner ethnischen Zugehörigkeit zu stoßen. Ich wollte mich gerade ausloggen, als Hannahs Handy sein Vogellied trällerte. Grace habe ihr meine Nachricht ausgerichtet, sagte sie. Sie sei in einer Telefonzelle und habe nicht genug Kleingeld dabei. Ich rief sie sofort zurück.

»Vor wem bist du denn davongerannt?« fragte ich, um einen scherzhaften Ton bemüht.

Sie war überrascht: Wie ich auf die Idee käme, daß sie gerannt sei?

»Weil du dich so anhörst«, sagte ich. »Ganz außer Atem.«

Das Gespräch ließ sich gar nicht gut an. Am liebsten hätte ich es abgebrochen und noch einmal von vorne angefangen, wenn ich wieder klarer denken konnte. Wie sollte ich ihr sagen, daß mich Mr. Anderson genauso enttäuscht hatte wie Lord Brinkley, nur auf eine scheinheiligere Art? Daß er ein zweiter Brinkley war, genau wie sie es vorhergesagt hatte?

»Wie geht’s deinen Kids?« fragte ich.

»Gut.«

»Grace sagt, sie haben jede Menge Spaß.«

»Stimmt. Sie sind überglücklich.«

»Du auch?«

»Ich bin glücklich, weil ich dich habe, Salvo.« Warum so feierlich? So endgültig?

»Und ich bin auch glücklich. Daß ich dich habe. Du bedeutest mir alles. Hannah, was ist los? Bist du nicht allein in der Telefonzelle? Du klingst so … unwirklich.«

»Ach, Salvo!«

Und dann beteuerte sie mir plötzlich, fast wie auf Knopfdruck, ihre leidenschaftliche Liebe, versicherte mir, nie geahnt zu haben, daß es ein solches Glück überhaupt geben könne, und schwor, mir niemals im Leben schaden zu wollen, auch nicht durch die kleinste Kleinigkeit, auch nicht durch etwas, das sie nur gut meinte. Nie im Leben.

»Aber natürlich nicht!« rief ich, fast ein bißchen perplex. »Du könntest mir nicht schaden und ich dir auch nicht. Wir halten immer zusammen, durch dick und dünn. Abgemacht!«

Und sie: »Ach, Salvo!«

Sie hatte aufgelegt. Eine lange Zeit stand ich da und starrte auf das Regenbogenhandy in meiner Hand. Wir Kongolesen lieben Farben. Warum hätte Gott uns sonst Gold und Diamanten, Früchte und Blumen geschenkt, wenn nicht, damit wir uns an der Buntheit freuen? Ich wanderte ziellos im Zimmer auf und ab, wie Haj, nachdem er gefoltert worden war – sah mich im Spiegel an und fragte mich, ob an mir überhaupt noch etwas war, was zu retten es lohnte. Ich setzte mich auf die Bettkante und stützte den Kopf in die Hände. Ein guter Mensch weiß, wann er sich opfern muß, pflegte Pater Michael zu sagen. Ein schlechter Mensch rettet sein Leben, aber er verliert seine Seele. Es war noch Zeit, nicht viel, aber genug. Genug für einen allerletzten Versuch. Aber ich mußte sofort handeln, solange Hannah noch in Bognor war.