Leute wie ihre leibliche Mutter, eine Frau, die Gabrielle niemals gekannt hatte. Sie hatte als Kind lediglich ein paar Dinge in halblaut geführten Gesprächen zwischen Sozialarbeitern und den Pflegefamilien aufgeschnappt, die sie schließlich, eine nach der anderen, wieder in die staatliche Fürsorge zurückgeschickt hatten, so wie ein Haustier, das mehr Arbeit verursachte, als es wert war. Sie hatte den Überblick über die einzelnen Familien verloren, zu denen sie geschickt worden war. Die Klagen, die man über sie äußerte, wenn sie zurückgebracht wurde, waren immer die gleichen: Sie sei rastlos und introvertiert, ohne jedes Vertrauen, sozial gestört, mit selbstzerstörerischen Neigungen. Sie hatte die gleichen Bezeichnungen über ihre Mutter gehört, nur dass dieser noch zusätzlich Wahnvorstellungen zugeschrieben wurden.
Als die Maxwells in ihr Leben traten, hatte Gabrielle neunzig Tage in einem Heim unter der Aufsicht einer staatlich geprüften Psychologin verbracht. Sie hatte absolut nicht erwartet und noch viel weniger gehofft, dass sie in einer neuen Pflegefamilie tatsächlich auf Dauer bleiben könnte. Eigentlich hatte sie den Zeitpunkt, an dem sie das noch belastet hatte, längst hinter sich gelassen. Aber ihre neuen Erziehungsberechtigten waren geduldig und freundlich gewesen. Da sie gedacht hatten, es könne ihr möglicherweise dabei helfen, mit ihrer verwirrten Gefühlswelt zurechtzukommen, hatten sie Gabrielle darin unterstützt, einige Gerichtsdokumente zu erlangen, die ihre Mutter betrafen.
Sie war eine Unbekannte im Teenageralter gewesen, wahrscheinlich obdachlos, ohne Ausweis und anscheinend ohne Familie oder Freunde, abgesehen von dem Säugling, den sie in einer Augustnacht in einem Mülleimer in der Innenstadt liegen gelassen hatte, schreiend und erschöpft. Gabrielles Mutter war brutal misshandelt worden und blutete aus tiefen Wunden am Hals; hysterisch und voller Panik hatte sie an den Verletzungen gekratzt und dadurch die Situation noch verschlimmert. Während sie in der Notaufnahme behandelt wurde, war sie in einen Zustand der Katatonie verfallen und hatte sich nie mehr erholt.
Statt sie für das Verbrechen, ihren Säugling ausgesetzt zu haben, strafrechtlich zu verfolgen, hatten die Gerichte die Frau für unzurechnungsfähig erklärt und sie in eine Einrichtung geschickt, die wahrscheinlich nicht viel anders war als diese hier. Weniger als einen Monat nach ihrer Einweisung hatte sie sich selbst mit einem zusammengeknoteten Betttuch erhängt und zahllose Fragen hinterlassen, auf die es niemals Antworten geben würde.
Gabrielle versuchte die Last dieser alten Wunden abzuschütteln, aber als sie dort stand und durch die frühen Glasfenster blickte, kam die Erinnerung an die Vergangenheit wieder hoch. Sie wollte nicht über ihre Mutter nachdenken und auch nicht über das Unglück ihrer Herkunft und die düsteren, einsamen Jahre, die danach gekommen waren. Sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren, denn sie war es, die Gabrielle das alles durchstehen ließ. Sie war die einzige Konstante in ihrem Leben, im Prinzip alles, was sie auf dieser Welt überhaupt besaß.
Und das reichte auch aus.
Jedenfalls reichte es meistens aus.
„Jetzt mach ein paar Aufnahmen, und verschwinde dann von hier, verdammt“, schalt sie sich selbst. Sie hob den Fotoapparat und machte noch ein paar Fotos durch die dünnen Gitterstäbe hindurch, die sich zwischen den doppelten Fensterscheiben befanden.
Dann überlegte sie, ob sie das Gelände auf die gleiche Weise verlassen sollte, wie sie hereingekommen war, oder ob sie nicht auch einen anderen Ausgang finden konnte, irgendwo im Erdgeschoss des Hauptgebäudes. Der Gedanke daran, sich wieder in den dunklen Keller zu begeben, war nicht gerade reizvoll. Sie machte sich mit den Gedanken an ihre Mutter selbst verrückt, und je länger sie in der alten Nervenheilanstalt blieb, desto unbehaglicher fühlte sie sich. Als sie die Tür zum Treppenhaus geöffnet hatte, fiel in einigen der leeren Räume und am Ende des angrenzenden Ganges schwaches Licht durch die Fenster, was ihr gleich ein besseres Gefühl gab.
Offenbar hatte es der „Schlechte Schwingungen“-Graffitikünstler von draußen ebenfalls bis hierher geschafft. Auf jede der vier Wände waren mit tiefschwarzer Farbe seltsame verschnörkelte Symbole gemalt. Vermutlich handelte es sich dabei um Bandensignaturen oder die stilisierte Unterschrift von Jugendlichen, die vor ihr hier gewesen waren. Eine weggeworfene Sprühdose lag in der Ecke, zusammen mit einem Abfallhaufen aus Zigarettenstummeln, zerbrochenen Bierflaschen und anderem Müll.
Gabrielle nahm ihren Fotoapparat heraus und suchte nach einem guten Winkel für die Aufnahme, die sie im Sinn hatte. Das Licht war nicht gerade toll, aber mit einem anderen Objektiv konnte das Motiv was hergeben. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihren Objektivkästchen. Plötzlich erstarrte sie, als sie von fern ein surrendes Geräusch hörte, das von irgendwo unter ihren Füßen stammte. Es war nur schwach, aber es klang merkwürdigerweise nach einem Fahrstuhl. Gabrielle stopfte ihre Ausrüstung in ihre Tasche zurück und horchte auf die vagen Geräusche um sie herum. Eiskalt überfiel sie eine düstere Vorahnung.
Sie war hier nicht allein.
Und jetzt, als sie darüber nachdachte, spürte sie auch einen Blick, der auf ihr ruhte. Er kam von einer Stelle ganz in ihrer Nähe, dessen wurde sie sich mit einem unangenehmen Prickeln auf ihrer Haut bewusst. Die feinen Härchen auf ihrem Nacken richteten sich auf, und auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Langsam drehte sie den Kopf und blickte sich um. Und da sah sie es – eine kleine Videokamera einer internen Überwachungsanlage, die in der im Schatten liegenden oberen Ecke des Flurs angebracht worden war und die Tür zum Treppenhaus überwachte, durch die sie nur wenige Minuten zuvor gekommen war.
Vielleicht funktionierte die Kamera nicht, möglicherweise war sie nur ein Überbleibsel aus den Tagen, als die Nervenheilanstalt noch in Betrieb gewesen war. Das wäre zu schön gewesen. Es war nur leider so, dass die Kamera gut gewartet und eindeutig auf dem neuesten Stand der Technik war. Probehalber machte Gabrielle einen langen Schritt darauf zu, sodass sie fast unter dem Gerät stand. Lautlos neigte sich die Sockelhalterung der Kamera, und das Objektiv richtete sich aus, bis es Gabrielle ins Gesicht starrte.
Scheiße, sagte sie lautlos in dieses schwarze, starre Auge. Erwischt.
Aus den Tiefen des leeren Gebäudes hörte sie das metallische Quietschen und Krachen einer schweren Tür. Offensichtlich war die verlassene Nervenheilanstalt doch nicht ganz so verlassen. Zumindest gab es hier Sicherheitspersonal, und die Bostoner Polizei könnte durchaus Nachhilfeunterricht von diesen Leuten gebrauchen, was die Anrückzeit betraf.
Eilige Schritte erklangen, als derjenige, der an diesem Ort Wache hielt, wer auch immer es sein mochte, auf sie zukam. Gabrielle kehrte um und lief ins Treppenhaus zurück. Sie sprintete in wilder Flucht die Stufen hinunter, ihre Ausrüstung schlug ihr gegen die Hüfte. Während sie die Treppe hinunterlief, wurde das Licht immer schwächer. Sie umklammerte die Taschenlampe in ihrer Hand, aber sie wollte sie äußerst ungern benutzen, da sie Angst hatte, dem Sicherheitspersonal ihren Aufenthaltsort zu verraten. Endlich hatte sie die letzte Treppenstufe erreicht und drückte die Metalltür, die in den dunklen Korridor des unteren Stocks führte, auf.
Da hörte sie, wie die überwachte Tür mit einem Knall aufgestoßen wurde, als ihr Verfolger hinter ihr die Treppe herunterdonnerte. Er lief schnell und kam ihr immer näher.
Endlich erreichte sie die Tür zum Versorgungsbereich am Ende des Flurs. Sie warf sich gegen den kalten Stahl, durchquerte die Türöffnung und rannte in den feuchten und kühlen Keller, auf das kleine Fenster zu, das nach außen geöffnet war. Ein Schwall frischer Luft gab ihr Kraft, als sie ihre Hände auf das Fenstersims stemmte und sich durch die kleine Lücke hochhievte. Sie schlüpfte rasch durch die Öffnung und stolperte auf die kiesbedeckte Erde ins Freie.