Grinsend und ohne jede Spur von Scham lümmelte sich Rio auf einen der Drehstühle und lehnte sich nach hinten, seine großen nackten Füße auf die Plexiglaskonsole aufgestützt. Er und die anderen Krieger begannen, über die Ausbeute der vorigen Nacht zu sprechen, lachten gemeinsam, als sie einander mit ihren Taten zu übertrumpfen versuchten, und diskutierten über spezielle Techniken ihres Berufs.
Während die Jagd auf die Feinde einigen Mitgliedern des Stammes Vergnügen bereitete, war Lucans eigene Motivation schlicht und einfach Hass. Er verachtete die Rogues zutiefst und hatte vor langer Zeit geschworen, ihre gesamte Art auszulöschen – oder aber bei dem Versuch, das zu tun, zu sterben. An manchen Tagen spielte es für ihn keine Rolle, was davon zuerst kam.
„Jetzt geht es los“, sagte Gideon schließlich, als die Aufzeichnungen, die über seinen Bildschirm rollten, stoppten. „Sieht aus, als seien wir auf eine Goldader gestoßen.“
„Was hast du gefunden?“
Lucan und die anderen richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen überdimensionalen Flachbildschirm über der Mikroprozessorenreihe des Labors. Die Gesichter der vier Rogues, die Lucan in der Nähe des Nachtclubs getötet hatte, erschienen auf dem Display, außerdem eines der Bilder von Gabrielles Handy, die sie von ihnen gemacht hatte.
„Die IID-Aufzeichnungen haben sie alle als vermisste Personen vermerkt. Zwei letzten Monat aus dem Dunklen Hafen von Connecticut, ein anderer aus Fall River, und der Letzte hier aus dem Ort. Sie gehören alle zu der gegenwärtigen Generation; der Jüngste war nicht mal dreißig Jahre alt.“
„Scheiße“, meinte Rio mit einem leisen Pfiff. „Dumme Kinder.“
Lucan schwieg. Er empfand nichts angesichts dieser Vergeudung junger Leben, die zu Rogues geworden waren. Sie waren nicht die Ersten, und todsicher würden sie auch nicht die Letzten sein. In den Dunklen Häfen zu leben konnte einem unreifen Jungen, der das Gefühl hatte, sich beweisen zu müssen, ziemlich langweilig vorkommen. Der Reiz, den Blut und Eroberung ausüben konnten, saß tief, sogar in den späteren Generationen, die doch am weitesten entfernt von ihren Urahnen waren. Wenn ein Vampir Ärger wollte, insbesondere in einer Stadt von der Größe Bostons, konnte er ihn problemlos haben.
Gideon gab an seiner Computertastatur rasch eine Reihe von Befehlen ein, wodurch noch mehr Fotos aus der Datenbank aufgerufen wurden. „Hier sind die beiden letzten Aufzeichnungen. Dieses erste Individuum ist ein bekannter Rogue, Wiederholungstäter hier in Boston, obwohl er es offenbar geschafft hat, mehr als drei Monate nicht entdeckt zu werden. Das heißt, das war der Fall, bis Lucan ihn am Wochenende in der Gasse in Asche verwandelt hat.“
„Und was ist mit diesem?“, fragte Lucan und beäugte das letzte Bild, das des einzigen Rogue, dem es gelungen war zu entkommen. Sein Foto erschien in Form eines Videostandbildes, das vermutlich während einer Art Verhör aufgenommen worden war, denn der Vampir trug Fesseln und Elektroden. „Wie alt ist dieses Bild?“
„Ungefähr sechs Monate“, antwortete Gideon, nachdem er das Datum aufgerufen hatte. „Stammt von einer der Zweigstellen an der Westküste.“
„L. A.?“
„Seattle. Aber laut der Datei liegt auch in L.A. ein Haftbefehl gegen ihn vor.“
„Haftbefehle“, spottete Dante. „Verdammte Zeitverschwendung.“
Dem musste Lucan zustimmen. Für den größten Teil des Vampirvolkes in den Vereinigten Staaten und im Ausland wurden die Vollstreckung der Gesetze und die Festnahme der Individuen, die zu Rogues geworden waren, durch spezielle Regeln und Vorgehensweisen geregelt. Haftbefehle wurden geschrieben, Verhaftungen wurden vorgenommen, Befragungen wurden durchgeführt, und bei hinreichender Beweislage und in ordnungsgemäßen Verfahren wurden die Urteile verkündet. Das alles war sehr zivilisiert. Und selten effektiv.
Während der Stamm und seine Bevölkerung in den Dunklen Häfen geregelt und nach allen Regeln der Bürokratie zivilisiert lebten, waren seine Feinde unbesonnen und unberechenbar. Und sofern Lucans Bauchgefühl ihn nicht täuschte, bereiteten sich die Rogues nach Jahrhunderten der Anarchie und des allgemeinen Chaos wieder darauf vor, neue Mitglieder zu rekrutieren.
Falls sie nicht schon Monate damit beschäftigt waren.
Lucan starrte auf das Bild, das auf dem Bildschirm zu sehen war. Auf dem Videostandbild war der gefangene Rogue an einen senkrecht stehenden Metalltisch gefesselt. Er war nackt, der Kopf war kahl geschoren worden, damit der Strom, der während der Vernehmung wahrscheinlich durch seinen Schädel gejagt wurde, besser fließen konnte. Lucan hatte kein Mitleid mit der Qual, die er hatte erdulden müssen. Verhöre dieser Art waren oftmals notwendig, und wie Menschen, die unter dem Einfluss von Heroin standen, konnte ein Vampir, der an Blutgier litt, zehnmal so viele Schmerzen ertragen wie seine Stammesbrüder, ohne daran zu zerbrechen.
Dieser Rogue war ein großer Mann mit einer groben Stirn und dummen, primitiven Gesichtszügen. Auf dem Videobild knurrte er, und seine langen Fangzähne glitzerten. Seine hellen Augen um die elliptischen Schlitze seiner starren Pupillen blickten wild. Kabel bedeckten seinen riesigen Kopf und seinen Hals bis hin zu seiner muskulösen Brust und seinen an Hämmer erinnernden Armen.
„Mal angenommen, hässlich zu sein ist kein Verbrechen, wofür hat Seattle ihn festgenommen?“
„Lasst uns mal sehen, was es hier gibt.“ Gideon drehte sich wieder zu seiner Reihe von Computern um und rief auf einem anderen Bildschirm eine Aufzeichnung auf. „Er wurde für Waffenschieberei und Drogenhandel verhaftet – Waffen, Explosivstoffe, chemische Substanzen. Oh, dieser Typ ist ein richtiger Sonnenschein. Hat mit ganz schön ekelhafter Scheiße zu tun.“
„Hast du eine Ahnung, wessen Waffen er geschmuggelt hat?“
„Hier ist nichts aufgeführt. Offenbar sind sie bei ihm nicht weit gekommen. Die Aufzeichnung gibt an, dass er aus der Verwahrung ausgebrochen ist, gleich nachdem diese Bilder aufgenommen worden waren. Er hat während der Flucht zwei seiner Wächter getötet.“
Und jetzt war er schon wieder entkommen, dachte Lucan grimmig und wünschte sich inbrünstig, er hätte den Scheißkerl in jener Nacht beim Club kaltgemacht. Er vertrug Versagen nicht besonders gut, am allerwenigsten bei sich selbst.
Lucan warf Niko einen Blick zu. „Ist dir dieser Typ je begegnet?“
„Nein“, entgegnete der Russe, „aber ich werde ihn mit Hilfe meiner Kontakte überprüfen und sehen, was ich finden kann.“
„Mach dich an die Arbeit.“
Nikolai nickte kurz und verließ das Techniklabor, während er bereits mit seinem Handy jemanden anrief.
„Das sind eindeutige Bilder“, sagte Conlan, der Gideon über die Schulter spähte, den Blick auf einen anderen Monitor gerichtet, der alle Fotos zeigte, die Gabrielle während des Mordes beim Nachtclub aufgenommen hatte. Der Krieger ließ einen Fluch entweichen. „Schlimm genug, dass im Lauf der Jahre Menschen einige dieser Blutbestienmorde mit angesehen haben, aber jetzt halten sie schon an, um ein paar Schnappschüsse zu machen?“
Dante ließ seine Füße mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen und begann herumzulaufen, als ob ihn die Untätigkeit dieses Treffens zunehmend in Unruhe versetzte. „Auf der ganzen Welt da draußen denken die Menschen, sie seien verdammte Paparazzi.“
„Der Kerl, der diese Aufnahmen gemacht hat, hat sich bestimmt ganz schön in die Hose gepisst, als er einen neunzig Kilo schweren Stammeskrieger gesehen hat, der ihn im Visier hatte“, fügte Rio hinzu. Grinsend sah er Lucan an. „Hast du dir die Mühe gemacht, zuerst seine Erinnerung auszulöschen, oder hast du den Dummkopf einfach an Ort und Stelle unschädlich gemacht?“
„Der Mensch, der den Angriff in dieser Nacht gesehen hat, war weiblich.“ Lucan starrte in die Gesichter seiner Brüder, verbarg aber seine Gefühle bezüglich der Neuigkeit, die er ihnen gleich mitteilen würde. „Es hat sich herausgestellt, dass sie eine Stammesgefährtin ist.“