Aber sie hatte ihn nicht zurückgewiesen.
Weiß Gott nicht, nein.
Wenn er es recht bedachte, wäre es wohl eine Gnade gewesen, wenn sie das getan hätte. Doch Gabrielle hatte das ganze Ausmaß seiner sexuellen Raserei akzeptiert, und mehr noch, es war genau das, was sie von ihm eingefordert hatte.
Wenn er sich jetzt sofort umdrehte und in ihre Wohnung zurückging, um sie aufzuwecken, könnte er noch ein paar Stunden mehr zwischen ihren wunderschönen, einladenden Schenkeln verbringen. Das würde zumindest einen Teil seiner Begierde befriedigen. Und wenn er die andere, wachsende Qual in seinem Inneren nicht zu lindern vermochte, dann konnte er immer noch auf die Sonne warten und es zulassen, dass die tödlichen Strahlen ihn verbrannten, bis von ihm nichts mehr übrig wäre.
Wenn er sich dem Stamm gegenüber nicht so verpflichtet fühlen würde, wäre dies keine schlechte Alternative.
Lucan zischte einen Fluch, als er Gabrielles Viertel verließ und tiefer in die nächtliche Stadt wanderte. Seine Sicht war geschärft, und seine Gedanken wurden immer ungezähmter. Sein Körper war nervös, ungeduldig. Er knurrte vor Frustration, da er die Zeichen gut genug kannte.
Er musste wieder Nahrung aufnehmen.
Im Grunde war seit dem letzten Mal, als er sich so reichlich genährt hatte, zu wenig Zeit vergangen; der Vorrat an Blut hätte für eine Woche oder sogar noch länger reichen müssen. Dennoch quälte ihn sein Magen, als ob er dem Hungertode nahe wäre. Es war lange Zeit so gewesen, dass sein Verlangen nach Blut immer schlimmer geworden war. Beinahe unerträglich, je mehr er es zu unterdrücken versuchte.
Und dann: Verweigerung.
Das hatte ihn bis heute gerettet.
Aber früher oder später würde auch das nicht mehr helfen. Und was dann?
Dachte er wirklich, dass er sich so sehr von seinem Vater unterschied?
Bei seinen Brüdern war das nicht der Fall gewesen, und sie waren beide älter und stärker als er gewesen. Die Blutgier hatte sie schließlich beide erwischt. Der eine hatte sich selbst das Leben genommen, als die Sucht zu stark geworden war. Der andere hatte sich der Sucht völlig ergeben und war zu einem Rogue geworden. Er hatte seinen Kopf durch die todbringende Klinge eines Stammeskriegers verloren.
Als Angehöriger der ersten Generation verfügte Lucan über ein besonderes Maß an Stärke und Macht – und man brachte ihm einen unbedingten Respekt entgegen, von dem er wusste, dass er ihn nicht verdiente –, aber Lucan empfand beides, Stärke und Macht, auch als Fluch. Er fragte sich, wie lange er noch die Düsterkeit seiner eigenen wilden Natur bekämpfen konnte.
In manchen Nächten hatte er es gottverdammt satt, dass er das tun musste.
Lucan lief an den Passanten vorbei, die auf den Straßen unterwegs waren, und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Obwohl er auf einen Kampf vorbereitet war, war er froh, dass keine Rogues in Sicht waren. Nur einige vereinzelte Vampire einer späteren Generation aus dem Dunklen Hafen der Gegend waren zu sehen, eine Schar junger Männer, die bei einer fröhlich kichernden Gruppe menschlicher Partygängerinnen standen und verstohlen nach brauchbaren Blutwirtinnen suchten – so wie er momentan.
Er sah, wie sich die jungen Männer gegenseitig anstießen, und hörte, wie sie die Worte Krieger und Gen Eins flüsterten, als er auf dem Asphalt auf sie zukam. Ihre offensichtliche Ehrfurcht und Neugier gingen ihm auf die Nerven, auch wenn es nichts Neues für ihn war. Vampire, die in den Dunklen Häfen geboren und aufgewachsen waren, hatten selten die Gelegenheit, ein Mitglied der Kriegerklasse zu Gesicht zu bekommen, ganz zu schweigen von dem Begründer des einstmals gepriesenen und nun lange veralteten Ordens.
Die meisten kannten die alten Geschichten, in denen erzählt wurde, wie sich vor mehreren Jahrhunderten acht der wildesten, tödlichsten Stammesmänner zu einer Gruppe zusammengefunden hatten, um den letzten der wilden Alten und die Armee aus Rogues, die ihnen dienten, zu töten. Diese Krieger wurden zur Legende, und im Laufe der Zeit hatte ihr Bündnis zahlreiche Veränderungen erlebt. Zu Zeiten der Kämpfe mit den Rogues hatte sich das Bündnis sowohl zahlen- als auch flächenmäßig ausgebreitet; in den langen Friedenszeiten dazwischen hatte die Zahl der Bündniskrieger abgenommen.
Inzwischen bestand die Klasse der Krieger nur noch aus einer versteckten Handvoll Individuen überall auf der Welt, die größtenteils unabhängig voneinander operierten und von der Gesellschaft oftmals mit leichter Verachtung angesehen wurden. In diesem aufgeklärten Zeitalter von Recht und Ordnung wurden Kriegertaktiken auch vom Volk der Vampire als rückständig angesehen und kaum als etwas Legales betrachtet.
Als ob Lucan oder irgendeiner der anderen Krieger an der Front auch nur das geringste Interesse an öffentlicher Zustimmung hätten.
Mit einem Knurren in Richtung der gaffenden Jugendlichen sandte Lucan eine mentale Einladung an die sich unterhaltenden menschlichen Frauen, die von den Vampiren auf der Straße angesprochen worden waren. Die Augen aller anwesenden Frauen wandten sich ihm zu, wurden angezogen von der ungezügelten Kraft, die er wissentlich in Wellen ausstrahlte. Zwei Mädchen – eine vollbusige Blonde und eine Rothaarige, deren Haar nur ein oder zwei Grade heller war als Gabrielles zimtfarbene Locken – trennten sich sofort von der Gruppe und gingen auf ihn zu, ihre Freundinnen und die anderen Männer waren sofort in Vergessenheit geraten.
Aber Lucan benötigte nur eine von ihnen, und die Wahl fiel ihm leicht. Er schickte die Blonde mit einem Kopfschütteln weg. Ihre Freundin machte es sich in seinem Arm bequem und streichelte ihn, während er sie von der Straße wegführte, in eine diskrete, unbeleuchtete Nische eines Gebäudes in der Nähe.
Er kam ohne Zögern zur Sache.
Lucan schob das Haar des Mädchens, das nach Rauch und Bier roch, beiseite und leckte sich die Lippen. Dann grub er seine ausgefahrenen Fangzähne in das Fleisch ihrer Kehle. Sie verkrampfte sich unter seinem Biss und hob die Hände instinktiv, als er den ersten langen Zug aus ihrer Ader nahm. Er saugte hart, da er kein Verlangen danach hatte, die Angelegenheit hinauszuzögern. Die junge Frau stöhnte jetzt, nicht aus Angst oder Unbehagen, sondern vor Vergnügen. Sie empfand einen Genuss, den nur Menschen erlebten, die im Bann eines Vampirs standen, der gerade ihr Blut frank.
Blut quoll Lucan warm und dickflüssig in den Mund.
Gegen seinen Willen schoss ihm ein Bild von Gabrielle durch den Kopf, wie sie in seinen Armen lag, und er stellte sich einen winzigen Augenblick lang vor, dass es ihr Hals wäre, an dem er jetzt saugte.
Dass es ihr Blut wäre, das ihm die Kehle hinunterlief, in seinen Körper strömte.
Gott, daran zu denken, wie es wäre, Blut aus ihrer Ader zu trinken, während sein Schwanz in ihre Hitze hineinstieße und sich tief in ihr ergösse …
Oh Gott.
Er verdrängte die Vorstellung mit einem bösartigen Knurren.
Das wird nie passieren, warnte er sich selbst streng. Die Realität war ungerecht, besser, er verlor sie nicht aus den Augen.
Tatsache war, dass es sich hier nicht um Gabrielle handelte, sondern um eine anonyme Fremde – genauso, wie es ihm am liebsten war. Das Blut, das er nun zu sich nahm, besaß nicht die Süße mit einem Hauch von Jasmin, nach der er sich sehnte, sondern einen bitteren Kupfergeschmack und wurde durch irgendeine milde Droge verfälscht, die seine Blutwirtin kürzlich zu sich genommen hatte.
Aber es spielte für ihn keine Rolle, wie sie schmeckte. Alles, was für ihn von Bedeutung war, war die Besänftigung seines Hungers, und dafür reichte jede Beliebige. Er trank noch mehr Blut von der jungen Frau, schluckte es hastig hinunter. Es war, wie immer bei ihm, nicht mehr als eine zweckmäßige Nahrungsaufnahme.