Dumm, dumm, dumm.
Und das nicht nur aus dem Grund, weil sie in ihrem Rausch jede Art von Schutz vergessen hatte. Mit einem praktisch Fremden ins Bett zu gehen war selten eine gute Idee, aber Gabrielle hatte das schreckliche Gefühl, dass sie drauf und dran war, ihr Herz an einen Mann wie Lucan Thorne zu verlieren.
Und das, da war sie sich sicher, wäre reichlich idiotisch.
Aber Sex mit ihm war nichts Alltägliches. Zumindest nicht für sie. Allein der Gedanke an Lucan Thorne ließ jede Faser ihres Körpers vor süßer Sehnsucht erbeben. Wenn er zufällig jetzt im Moment das Restaurant beträte, würde sie wahrscheinlich über die Tische hüpfen und über ihn herfallen.
„Wir hatten eine unglaubliche Nacht zusammen, aber für den Augenblick ist das alles. Ich möchte nicht mehr hineininterpretieren.“
„Aha.“ Jamie stützte seinen Ellbogen auf den Tisch und beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber. „Warum kannst du dann nicht aufhören zu lächeln?“
„Wo zum Teufel bist du gewesen?“
Lucan roch Tegan, bevor er den Vampir um die Ecke des Flurs des Wohntraktes im Inneren des Quartiers biegen sah. Der Mann war erst kürzlich auf der Jagd gewesen. Ihm haftete noch der metallische, süße Blutgeruch an – sowohl von menschlichem als auch von Rogues-Blut.
Als er sah, wie Lucan vor einer der Wohnungen auf ihn wartete, blieb er stehen, seine Hände in den Taschen seiner tief sitzenden Jeans zu Fäusten geballt. Tegans graues T-Shirt war stellenweise zerrissen und mit Schmutz und Blut verdreckt. Unter seinen hellgrünen, verquollenen Augen lagen dunkle Ringe. Langes, ungekämmtes lohfarbenes Haar fiel ihm ins Gesicht.
„Du siehst beschissen aus, Tegan.“
Dieser blickte unter den Strähnen aus schmutzigem blondem Haar auf und grinste wie üblich höhnisch.
Glyphen zogen sich über seine Unterarme und den ausgeprägten Bizeps. Die eleganten Zeichen waren nur eine Spur dunkler als sein eigener goldener Hautton, und ihre Farbe verriet nichts über die aktuelle Stimmung des Vampirs. Lucan wusste nicht, ob er es mit reiner Willenskraft schaffte, dass seine Haut stets Gleichgültigkeit ausdrückte, oder ob seine dunkle Vergangenheit tatsächlich jedes Gefühl in ihm abgetötet hatte.
Gott wusste, er hatte so viel erdulden müssen, dass es ausgereicht hätte, um einen ganzen Kader von Kriegern daran zerbrechen zu lassen.
Aber Tegans persönliche Dämonen waren sein eigenes Problem. Alles, was für Lucan zählte, war, dass der Orden stark und handlungsfällig blieb. Da war kein Platz für schwache Glieder in der Kette.
„Du hast dich fünf Tage lang nicht gemeldet, Tegan. Ich frage noch mal, wo zum Teufel bist du gewesen?“
Tegan lachte. „Verpiss dich, Mann. Du bist nicht meine Mutter.“
Als er weggehen wollte, versperrte Lucan ihm den Weg, indem er atemberaubend schnell die Distanz zwischen ihnen überwand. Er packte Tegan an der Kehle und stieß ihn mit dem Rücken gegen die Flurwand, um ihm eine Reaktion zu entlocken.
Er war kurz vor einem Wutausbruch – wegen Tegans nachlässiger Haltung gegenüber den anderen Mitgliedern des Ordens in letzter Zeit, aber noch mehr wegen sich selbst. Wie konnte er nur so naiv gewesen sein zu glauben, dass er eine Nacht mit Gabrielle Maxwell verbringen und sie dann vergessen könnte?
Weder Menschenblut noch die rasende Wut, mit der er in den Stunden vor der Morgendämmerung über zwei Rogues hergefallen war, hatten ausgereicht, um die Lust auf Gabrielle zu dämpfen, die noch immer durch seine Adern pulsierte. Lucan hatte den Rest der Nacht die Stadt durchstreift wie ein Geist und war mit einer rasenden, düsteren Wut zum Quartier zurückgekehrt.
Das Gefühl hielt an, als er seine Finger um die Kehle seines Bruders schloss. Er brauchte ein Ventil für seine Aggression, und da kam ihm Tegan, wild und verschlossen, gerade recht.
„Ich habe deine Scheiße satt, Tegan. Du musst dich zusammenreißen, sonst werde ich das für dich tun.“ Er quetschte den Kehlkopf des Vampirs fester, aber Tegan zuckte trotz des Schmerzes, den er verspüren musste, kaum zusammen. „Und jetzt sag mir, wo du die ganze Zeit gewesen bist, oder du und ich werden ernsthafte Probleme miteinander bekommen.“
Die beiden Männer waren gleich groß und waren einander durchaus gewachsen, was ihre Kräfte anging. Tegan hätte sich wehren können, aber das tat er nicht. Er zeigte überhaupt keine Gefühlsregung, sondern starrte Lucan nur mit stählernem, gleichgültigem Blick an.
Er fühlte überhaupt nichts, und das ging Lucan unglaublich auf die Nerven.
Mit einem Knurren nahm er seine Hand von der Kehle des Kriegers und versuchte seine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Es war nicht seine Art, dermaßen auszurasten. Es war unter seiner Würde.
Mein Gott.
Und er stand da und sagte zu Tegan, er solle sich zusammenreißen?
Toller Rat. Vielleicht sollte er ihn selbst auch befolgen.
Der ausdruckslose Blick aus Tegans Augen drückte in etwa das Gleiche aus, obwohl der Vampir klugerweise schwieg. Als die beiden Verbündeten – trotz allem waren sie das – einander in düsterem Schweigen betrachteten, glitt in einiger Entfernung am Ende des Ganges mit einem leisen Zischen eine Glastür auf. Gideons Turnschuhe quietschten auf dem glänzenden Fußboden, als er aus seinem Privatquartier auf den Gang trat.
„He, Tegan, tolle Arbeit, Mann. Ich habe die Überwachung laufen lassen, nachdem wir uns gestern Abend unterhalten haben. Dein Gefühl, dass die Rogues die Green Line[3] observieren, scheint absolut gerechtfertigt zu sein.“
Lucan zuckte mit keiner Wimper, während Tegan seinem Blick standhielt, fast ohne Gideons Lob wahrzunehmen. Auch verteidigte er sich nicht gegen Lucans falsche Verdächtigungen. Er blieb einfach eine lange Minute dort stehen und schwieg. Dann ging er an Lucan vorbei und den Flur hinunter.
„Du solltest dir das anschauen“, rief Gideon Lucan zu, als er sich auf den Weg zum Labor machte. „Sieht aus, als ob demnächst was passieren wird.“
9
Die warme Tasse in beiden Händen haltend, nippte Gabrielle an ihrem schwachen Oolong-Tee, während Jamie ihren Rest Lo Mein verdrückte. Er würde ihr auch ihren Glückskeks abschwatzen – das tat er immer –, aber das war ihr egal. Es war einfach schön, mit ihren Freunden unterwegs zu sein. Damit trat nach den Ereignissen vom Wochenende wieder so etwas wie Normalität in ihr Leben.
„Ich habe was für dich“, sagte Jamie und unterbrach so ihre Gedanken. Er wühlte in einer cremefarbenen Ledertasche, die zwischen ihnen auf der Bank stand, und zog einen weißen Umschlag hervor. „Die Einnahmen der Privatausstellung.“
Gabrielle öffnete das Siegel und zog den Scheck der Galerie heraus. Es war mehr Geld, als sie erwartet hatte. Einige Tausend Dollar mehr. „Wow.“
„Überraschung“, gab Jamie mit einem breiten Grinsen in einem Singsang von sich. „Ich habe den Preis viel höher angesetzt, und die Typen haben zugeschlagen, ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen zu handeln. Meinst du, ich hätte noch mehr verlangen sollen?“
„Nein“, meinte Gabrielle. „Nein, das ist, äh … wow. Ich danke dir.“
„Kein Problem.“ Er deutete auf ihren Glückskeks. „Willst du den?“
Sie schob ihn ihm über den Tisch hinweg zu. „Also, wer ist der Käufer?“
„Oh, das bleibt ein großes Geheimnis“, antwortete er und zerbrach den Keks in seiner Plastikhülle. „Sie haben bar bezahlt, also war es ihnen offenbar ernst mit dem ,anonymen‘ Teil des Kaufs. Und sie haben ein Taxi hergeschickt, um mich mit der Sammlung abzuholen …“
„Worüber redet ihr?“, fragte Megan. Sie starrte die beiden an und runzelte verwirrt die Stirn. „Ich schwöre, ich bin die Letzte, die alles erfährt.“
„Unsere talentierte kleine Künstlerin hier hat einen geheimen Verehrer“, antwortete Jamie äußerst dramatisch. Er zog den Zettel mit dem Spruch heraus, las ihn und rollte dann mit den Augen, als er den Papierstreifen auf seinen leeren Teller warf. „Was ist aus den guten alten Zeiten geworden, als diese Dinger tatsächlich noch eine Bedeutung hatten? Wie auch immer, vor ein paar Tagen wurde ich eines Abends in ein Penthouse bestellt, um Gabbys gesamtes Werk einem anonymen Käufer zu zeigen. Und alles wurde gekauft – bis auf das letzte Stück.“