War er nicht letztes Wochenende in der Polizeiwache gewesen, als sie ihre Aussage gemacht hatte?
Wer auch immer er war, er musste bemerkt haben, dass sie ihn entdeckt hatte, denn er zog sich ganz plötzlich zurück, verschwand hinter dem Baum und verließ den Park dann in Richtung der Charles Street. Er holte ein Mobiltelefon aus seiner Hosentasche und warf ihr einen Blick über die Schulter zu, als er schnell in Richtung der Straße verschwand.
Gabrielles Nacken kribbelte vor Misstrauen und einem flauen Gefühl der Beunruhigung.
Er hatte sie beobachtet – aber warum?
Was zum Teufel sollte das? Irgendetwas ging hier vor sich, aber sie würde nicht länger nur hier herumstehen und darüber nachdenken.
Die Augen auf den Typen mit der Khakihose geheftet, folgte Gabrielle ihm, nachdem sie ihre Kamera wieder in ihre Tasche gepackt und den kleinen gepolsterten Rucksack aufgesetzt hatte. Der junge Mann war ihr etwa einen Häuserblock voraus, als sie die große Rasenfläche des Parks verließ und die Charles Street betrat.
„He!“, rief sie hinter ihm her und begann zu laufen.
Der Typ, der noch immer telefonierte, drehte den Kopf und sah sie an. Er sprach eindringlich in den Hörer, dann klappte er das Handy zusammen und umschloss es mit der Hand. Als er sich von ihr wegdrehte, beschleunigte sich sein schneller Schritt zu einem Sprint.
„Halt!“, schrie Gabrielle. Sie zog damit die Aufmerksamkeit anderer Leute auf der Straße auf sich, aber der junge Mann ignorierte sie weiterhin. „Ich sagte Halt, verdammt! Wer bist du? Warum spionierst du mir nach?“
Er rannte die überfüllte Charles Street entlang und verschwand in der Menge aus bummelnden Passanten. Gabrielle folgte ihm, den Touristen und Büroangestellten, die in ihrer Mittagspause unterwegs waren, ausweichend, den Blick auf den auf und ab hüpfenden Rucksack des Jungen gerichtet. Er bog in eine Straße und dann in eine andere ein, drang immer tiefer in die Stadt vor, weg von den Läden und Geschäften auf der Charles Street und zurück nach Chinatown mit seinem Menschengedränge.
Sie wusste nicht, wie weit sie den jungen Mann verfolgt hatte oder wo genau sie sich befand, aber plötzlich merkte sie, dass sie ihn verloren hatte. Sie bog um eine Straßenecke – und fühlte sich ganz allein, in einer Gegend, die ihr vollkommen fremd war. Ladeninhaber starrten sie unter Markisen und durch offen stehende Türen, die die Sommerluft hereinlassen sollten, an. Passanten warfen ihr ärgerliche Blicke zu, weil sie stocksteif mitten auf dem Bürgersteig stand und dem Strom der Fußgänger den Weg versperrte.
Und da bemerkte sie die Gegenwart einer bedrohlichen Macht hinter sich auf der Straße.
Gabrielle blickte sich um und sah eine schwarze Limousine mit dunkel getönten Fenstern, die langsam zwischen den anderen Autos entlangfuhr. Sie rollte elegant, bedächtig, wie ein Hai, der auf der Suche nach einer besseren Beute einen Schwarm von Elritzen durchquert.
Kam sie auf sie zu?
Vielleicht saß der junge Mann, der ihr hinterherspioniert hatte, darin. Vielleicht hatten sein Erscheinen und das dieses unheilvoll aussehenden Wagens etwas mit der Person zu tun, die Jamie ihre Fotografien abgekauft hatte.
Oder vielleicht war es etwas Schlimmeres.
Vielleicht hatte es etwas mit dem schrecklichen Mord zu tun, den sie am Wochenende gesehen hatte. Mit ihrem Bericht bei der Polizei. Vielleicht war es doch einfach eine Abrechnung unter Banden gewesen, über die sie gestolpert war. Vielleicht hatten diese bösartigen Kreaturen – sie konnte sich selbst nicht so recht davon überzeugen, dass sie Menschen waren – entschieden, dass sie ihr nächstes Ziel sein sollte.
Eiskalte Angst breitete sich in ihrem Körper aus, als das Fahrzeug aus der Fahrspur ausscherte, die dicht an dem Bürgersteig vorbeiführte, auf dem sie noch immer stand.
Sie begann zu gehen. Und beschleunigte ihren Schritt.
Hinter ihr heulte der Motor des Wagens auf.
Oh Gott.
Er verfolgte sie!
Gabrielle wartete nicht das Quietschen der Reifen hinter sich ab, sie schrie auf und rannte in blinder Hast davon, so schnell sie nur konnte.
Es waren zu viele Menschen um sie herum. Zu viele Hindernisse auf ihrem direkten Weg. Sie wich den umherlaufenden Fußgängern aus, zu panisch, um sich bei denen zu entschuldigen, die sie angerempelt hatte und die ihr einen Fluch oder eine Beschimpfung hinterherschickten.
Es war ihr egal, sie war sich sicher, dass es hier um Leben und Tod ging.
Ein rascher Blick hinter sich bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Das Auto war ihr dicht auf den Fersen. Gabrielle senkte den Kopf und beeilte sich noch mehr, betete, dass sie es schaffte, die Straße zu verlassen, bevor das Fahrzeug sie überfahren konnte.
In ihrer Eile vertrat sie sich den Fuß.
Sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und stürzte hart auf den rauen Beton. Sie fiel auf ihre bloßen Knie und ihre Hände, schürfte sich alles auf. Der brennende Schmerz ließ ihr die Tränen in die Augen steigen, aber sie ignorierte ihn. Gabrielle stolperte auf die Füße. Sie hatte sich kaum aufgerappelt, als sie den harten Griff eines Fremden an ihrem Ellbogen spürte.
Sie keuchte auf, geriet noch mehr in Panik.
„Sin’ Sie in Ordnung, Lady?“ Der grauhaarige Kopf eines städtischen Arbeiters erschien in ihrem Gesichtsfeld. Der Blick seiner von Falten umgebenen blauen Augen fiel auf ihre Wunden. „O je. Seh’n Sie sich das an, Sie bluten ja.“
„Lassen Sie mich los!“
„Ha’m Sie nich’ die Pylonen da drüben gesehen?“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zu den orangefarbenen Kegeln, an denen sie vorbeigerannt war. „Ich hab den ganzen Abschnitt vom Bürgersteig aufgerissen.“
„Bitte – es ist okay. Mir geht es gut.“
Gefangen in seinem gut gemeinten Griff, der sie jedoch an ihrer Flucht hinderte, wandte Gabrielle den Kopf und sah gerade noch, wie die dunkle Limousine an die Ecke, an der sie noch vor einem Augenblick gestanden hatte, heranfuhr und abrupt am Straßenrand stehen blieb. Die Fahrertür öffnete sich, und ein riesengroßer Mann mit breiten Schultern stieg aus.
„Oh Gott. Lassen Sie mich los!“ Gabrielle entriss dem Mann, der ihr zu helfen versuchte, ihren Arm, den Blick auf dieses monströse Auto und die Gefahr, die herauskroch, geheftet. „Sie verstehen nicht – sie sind hinter mir her!“
„Wer?“ Die Stimme des Straßenarbeiters klang ungläubig. Er folgte ihrem Blick und ließ ein Lachen ertönen. „Sie meinen diesen Kerl? Mensch, das is’ der verdammte Bürgermeister von Boston!“
„Wa…“
Es stimmte. Etwas verwirrt angesichts dieser neuen Situation beobachtete sie das Geschehen. Die schwarze Limousine war überhaupt nicht hinter ihr her. Sie hatte am Straßenrand angehalten, wo der Fahrer nun wartete und die hintere Tür aufhielt. Der Bürgermeister selbst verließ ein Restaurant, flankiert von Bodyguards in Anzügen. Sie alle stiegen hinten in das Fahrzeug ein.
Gabrielle schloss die Augen. Ihre aufgeschlagenen Handflächen brannten. Ihre Knie ebenfalls. Ihr Puls raste immer noch, aber ihr gesamtes Blut schien aus ihrem Kopf geströmt zu sein.
Sie fühlte sich wie eine komplette Idiotin.
„Ich dachte …“, murmelte sie, als der Fahrer die Tür schloss, vorne einstieg und dann den Wagen des Bürgermeisters wieder in den Verkehr einfädelte.
Der Arbeiter ließ ihren Arm los. Er trat ein paar Schritte von ihr weg und ging kopfschüttelnd zu der Tüte mit seinem Mittagessen und seinem Kaffee zurück. „Was is’ los mit Ihnen? Sin’ Sie verrückt oder so?“
Scheiße.
Sie sollte ihn nicht sehen. Sein Auftrag hatte gelautet, die Maxwell zu observieren. Ihre Aktivitäten aufzuschreiben. Ihre Gewohnheiten kennenzulernen. Alles seinem Meister zu berichten. Aber das Wichtigste war, zu vermeiden, entdeckt zu werden.
Der Lakai fluchte erneut in seinem Versteck, seine Wirbelsäule flach gegen das Innere einer unscheinbaren Tür in einem unscheinbaren Gebäude gepresst, einem von zahlreichen solcher Orte, die zwischen den Märkten und Restaurants in Chinatown eingebettet lagen. Vorsichtig zog er die Tür auf und spähte umher, um zu sehen, ob er die Frau irgendwo draußen entdecken konnte.