Da war sie, auf der anderen Seite der stark befahrenen Straße, ihm direkt gegenüber.
Und er war froh zu sehen, dass sie die Gegend verließ. Er konnte gerade noch ihr kupferfarbenes Haar sehen, als sie durch den Strom der Fußgänger auf dem Bürgersteig lief, mit gesenktem Kopf. An der Art, wie sie ging, war zu erkennen, dass sie aufgeregt war.
Er blieb in seinem Versteck und beobachtete sie, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Dann schlüpfte er wieder auf die Straße zurück und ging in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte mehr als eine Stunde Mittagspause verschwendet und sollte besser zur Polizeiwache zurückkehren, bevor er vermisst wurde.
10
Gabrielle hielt ein weiteres Blatt einer Küchenrolle unter das kalte Wasser, das in ihre Spüle lief. Mehrere andere lagen, weggeworfen, bereits in dem Becken. Sie waren klatschnass und rosa von ihrem Blut sowie grau durch den Schmutz von dem Gehwegsplitt, den sie aus ihren Handflächen und den bloßen Knien gewaschen hatte. Gabrielle stand in Büstenhalter und Slip da. Sie gab etwas Flüssigseife auf das Knäuel aus feuchtem Papier und rieb dann behutsam über die Abschürfungen an beiden Handflächen.
„Au“, keuchte sie und zuckte zusammen, als sie über ein scharfes Steinchen wischte, das in der Wunde steckte. Sie zog es heraus und warf es zu den anderen, die sie bei ihrer gründlichen Reinigung zutage gefördert hatte, in die Spüle.
Gott, sie sah einfach schlimm aus.
Ihr neuer Rock war zerrissen, vollkommen ruiniert. Der Saum ihres Pullovers war ausgefranst, als sie über den Asphalt geschrammt war. Ihre Hände und Knie sahen aus, als wäre sie ein ungestümes, unbeholfenes Kind, das sich ständig wehtat.
Außerdem hatte sie sich in aller Öffentlichkeit total zum Affen gemacht.
Was zum Teufel stimmte nicht mit ihr? Sie drehte doch sonst nicht so durch!
Es war der Bürgermeister gewesen, um Himmels willen. Und sie war vor seinem Auto geflohen, als ob sie befürchtet hätte, es hätte sich bei ihm um einen …
Um was gehandelt? Irgendein Monster?
Vampir.
Gabrielles Hand hielt inne.
Sie hörte das Wort in ihrem Kopf, auch wenn sie sich weigerte, es laut auszusprechen. Es war das gleiche Wort, das seit dem Mord, den sie vor dem Nachtclub gesehen hatte, an den Rand ihres Bewusstseins gedrungen war. Ein Wort, das sie nicht akzeptieren würde, nicht einmal allein, in der Stille ihrer leeren Wohnung.
Vampire waren die Obsession ihrer verrückten leiblichen Mutter gewesen, nicht ihre eigene.
Die unbekannte junge Frau hatte an schweren Wahnvorstellungen gelitten, als die Polizei sie damals auf der Straße aufgelesen hatte. Sie hatte davon gesprochen, dass sie von Dämonen verfolgt worden war, die ihr Blut hatten trinken wollen – und es tatsächlich auch versucht hatten. Das war jedenfalls ihre Erklärung für die seltsamen Verletzungen an ihrer Kehle gewesen. Die Gerichtsdokumente, die Gabrielle aufgrund der Bemühungen der Maxwells ausgehändigt worden waren, waren voll mit wilden Hinweisen auf blutdurstige Dämonen, die angeblich frei in der Stadt herumliefen.
Unmöglich.
Es war wirklich verrückt, so etwas zu denken, und Gabrielle wusste das auch.
Sie war auf dem besten Wege, ihre Einbildungen und ihre Ängste, dass sie eines Tages wie ihre Mutter verrückt werden könnte, die Oberhand gewinnen zu lassen. Doch sie war zu klug dafür. Zumindest aber geistig gesund genug.
Gott, das musste sie wenigstens sein.
Dass sie heute diesen jungen Mann von der Polizeiwache gesehen hatte – zusätzlich zu allem anderen, was sie in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte –, löste einfach etwas in ihr aus. Auch wenn sie sich, wenn sie genauer darüber nachdachte, nicht einmal sicher war, dass der Typ, den sie im Park gesehen hatte, tatsächlich der Büroangestellte war, den sie letztes Wochenende auf dem Polizeirevier gesehen hatte.
Und was, wenn er es wirklich war? Vielleicht war er nur im Stadtpark gewesen, um dort seine Mittagspause zu verbringen und das Wetter zu genießen, wie es bei ihr selbst auch der Fall gewesen war. Das war ja kein Verbrechen. Wenn er sie angestarrt hatte, dann vielleicht nur deshalb, weil er ebenfalls gedacht hatte, dass sie ihm bekannt vorkam. Vielleicht wäre er zu ihr herübergekommen und hätte sie angesprochen, wenn sie nicht auf ihn losgegangen wäre wie eine paranoide Psychopathin und ihn beschuldigt hätte, ihr nachzuspionieren.
Oh, wäre es nicht komisch, wenn er zur Polizeiwache zurückkehrte und allen erzählen würde, wie sie ihn mehrere Blocks bis nach Chinatown gejagt hatte?
Wenn Lucan davon hören würde, würde sie ganz bestimmt vor Scham sterben.
Gabrielle nahm die Säuberung ihrer aufgeschrammten Handflächen wieder auf und versuchte, den gesamten Tag aus dem Kopf zu bekommen. Dennoch war sie immer noch voller Angst, und ihr Herz pochte wie wild. Sie betupfte die Wunden und sah dem dünnen Rinnsal aus Blut zu, das über ihr Handgelenk lief.
Der Anblick beruhigte sie auf eine merkwürdige Art. Das war schon immer so gewesen.
Als sie noch jünger gewesen war und nicht gewusst hatte, wohin mit all den Gefühlen und dem ganzen Druck, die sich in ihr aufgebaut hatten, hatte oft ein winziger Schnitt genügt, um ihr Erleichterung zu verschaffen.
Das erste Mal war es ein Unfall gewesen. Gabrielle hatte in einer ihrer Pflegefamilien einen Apfel geschält, als das Messer plötzlich abgerutscht war und sie sich in den Ballen ihres Daumens geschnitten hatte. Es hatte ein bisschen wehgetan, aber als das Blut herausgequollen war, ein Rinnsal aus glänzendem, hellem Karmesinrot, hatte Gabrielle keine Panik und keine Angst empfunden.
Sie hatte Faszination empfunden.
Eine unglaubliche Art von … Frieden.
Ein paar Monate nach dieser überraschenden Entdeckung hatte Gabrielle sich wieder geschnitten. Sie hatte es vorsätzlich getan, heimlich und nicht mit der Absicht, sich selbst ernsthaft Schaden zuzufügen. Mit der Zeit begann sie es regelmäßig zu tun, wann immer sie das Bedürfnis verspürt hatte, das gleiche tiefe Gefühl von Ruhe zu empfinden.
Und sie verspürte dieses Bedürfnis auch jetzt; aufgeregt und nervös wie eine Katze. Ihre Ohren achteten auf jedes kleine Geräusch, das in der Wohnung und draußen zu hören war. Ihr Herz pochte. Sie atmete flach und schnell durch den Mund.
Ihre Gedanken flogen von einer Erinnerung zur anderen, von der Nacht beim Club über die gruselige Nervenheilanstalt, wo sie neulich morgens Fotos gemacht hatte, bis hin zu der verwirrenden, irrationalen, existenziellen Angst, die sie an diesem Nachmittag in der Stadt gespürt hatte.
Sie brauchte ein bisschen Frieden, etwas Abstand von all diesen Dingen.
Und seien es nur einige wenige Minuten Ruhe.
Gabrielles Blick glitt zu dem hölzernen Messerblock, der auf der Küchentheke neben ihr stand. Sie streckte die Hand aus und nahm eines der Messer in die Hand. Es war Jahre her, dass sie das zuletzt getan hatte. Sie hatte so hart daran gearbeitet, diesen merkwürdigen, beschämenden Zwang zu beherrschen.
War er je wirklich verschwunden?
Ihre Psychologen und Sozialarbeiter – alle staatlich geprüft – waren schließlich davon überzeugt gewesen. Und auch die Maxwells.
Gabrielle bezweifelte das, als sie das Messer zu ihrem bloßen Arm führte und spürte, wie sie düstere Vorfreude überkam. Sie drückte die Spitze der Klinge gegen den fleischigen Teil ihres Unterarms, aber noch nicht so fest, dass die Klinge die Haut verletzt hätte.
Das hier war ihr persönlicher Dämon – noch nie hatte sie offen darüber mit jemandem gesprochen, nicht einmal mit Jamie, ihrem engsten Freund.
Niemand würde es verstehen.
Sie verstand es ja selbst kaum.
Gabrielle legte den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Als sie langsam wieder ausatmete und ihr Kinn nach unten sinken ließ, sah sie ihr Spiegelbild in dem Fensterglas über der Spüle. Das Gesicht, das sie anstarrte, sah abgespannt und traurig aus, die Augen gehetzt und erschöpft.