„Wer bist du?“, flüsterte sie diesem geisterhaften Spiegelbild zu. Sie musste ein Schluchzen unterdrücken. „Was stimmt nicht mit dir?“ Unglücklich über sich selbst, warf sie das Messer in die Spüle und wich zurück, als es in dem Becken aus verchromtem Stahl schepperte.
Das stetige Rattern der Hubschrauberrotoren durchbrach die Stille der Nacht über der alten Nervenheilanstalt. Aus der niedrig hängenden Wolkendecke kam eine schwarze Colibri EG 120 heraus und landete sanft auf der weiten Fläche des Daches.
„Schalte den Motor aus“, befahl der Führer der Rogues dem Piloten, einem Lakaien, nachdem der Helikopter auf dem behelfsmäßigen Hubschrauberlandeplatz aufgesetzt hatte. „Warte hier auf mich, bis ich zurückkehre.“
Er kletterte aus dem Cockpit und wurde sogleich von seinem Stellvertreter empfangen, einem ziemlich abscheulichen Individuum, das er an der Westküste rekrutiert hatte.
„Alles ist in Ordnung, Sire.“ Über den wilden gelben Augen des Rogue ragte eine grobe Stirn hervor. Sein großer, kahler Schädel trug noch immer die Narben der Verbrennungen, die ihm während einiger Verhöre durch den Stamm vor einem halben Jahr mit Stromschlägen zugefügt worden waren. Allerdings fielen die zahllosen Brandnarben inmitten der sonstigen abstoßenden Hässlichkeit des Vampirs kaum auf. Er grinste und entblößte dabei riesige Fangzähne. „Eure Geschenke heute Nacht wurden sehr gut aufgenommen, Sire. Alle erwarten eifrig Eure Ankunft.“
Der Führer der Rogues, dessen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen lagen, nickte leicht. Er schritt gemächlich aus, als er in das oberste Stockwerk des Hauses und dann zu einem Aufzug geführt wurde, der ihn hinunter in das Herz des Gebäudes bringen würde. Sie fuhren ganz nach unten ins Erdgeschoss, stiegen dort aus dem Fahrstuhl aus und durchquerten ein Labyrinth aus verzweigten, unterirdischen Gängen, das einen Teil der allgemeinen Garnison ihres Verstecks ausmachte.
Der Führer selbst hatte im vergangenen Monat seinen Sitz in Privatquartieren irgendwo in Boston gehabt, wo er zurückgezogen Einsätze analysiert, mögliche Hindernisse abgeschätzt und seine größten Stärken in dem neuen Gebiet, das er beherrschen wollte, abgesteckt hatte. Dies sollte sein erster öffentlicher Auftritt sein – ein Ereignis, das vollkommen seiner Absicht entsprach.
Es kam nicht oft vor, dass er sich in den Dreck der niederen Bevölkerung begab. Vampire, die zu Rogues geworden waren, waren ein primitiver, unbedachter Haufen, und er hatte in den zahlreichen Jahren seiner Existenz wirklich feinere Dinge schätzen gelernt. Aber ein Auftritt war fällig, wie kurz er auch immer sein mochte. Er musste die Bestien daran erinnern, wem sie dienten, und so hatte er ihnen einen Vorgeschmack auf die Beute gegeben, die sie am Ende ihrer letzten Mission erwartete. Nicht dass alle von ihnen überleben würden, natürlich. Schließlich gab es in Kriegszeiten immer mehr Verluste als sonst.
Und Krieg war das, wofür er heute Nacht hier werben würde.
Keine belanglosen Grenzkonflikte mehr. Keine entzweienden internen Machtkämpfe oder sinnlosen Akte der persönlichen Vergeltung unter den Rogues. Sie würden sich vereinigen und ein neues Kapitel beginnen, das in dem uralten Kampf, der das Vampirvolk schon ewig in zwei Hälften gespalten hatte, bisher nicht vorstellbar gewesen war. Zu lange hatte der Stamm geherrscht, der eine stille Abmachung mit den niederen Menschen geschlossen und gleichzeitig nach Ausrottung ihrer Rogues-Verwandten gestrebt hatte.
Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen des Vampirvolkes waren im Grunde minimal. Das, was zwischen dem Stammesvampir, der seinen Hunger stillte, um zu leben, und der Blutgier stand, dem unstillbaren Blutdurst der Rogues, waren nur ein paar Tropfen Blut. Die Blutlinien der Rasse waren seit den Zeiten der Vorfahren verwässert worden, als neue Vampire erwachsen geworden waren und sich mit menschlichen Stammesgefährtinnen gepaart hatten.
Aber egal, wie verdorben die Blutlinie durch menschliches Genmaterial auch war, die stärkeren Vampirgene würden niemals völlig ausgelöscht werden. Blutgier war ein Gespenst, das den Stamm ewig heimsuchen würde.
Der Führer dieses zu führenden Krieges sah es so, dass man den natürlichen Drang der eigenen Art entweder bekämpfen oder ihn so nutzen konnte, dass er einem zum Vorteil gereichte.
Er und seine rechte Hand hatten nun das Ende des Korridors erreicht, wo die dröhnenden Bässe lauter Musik durch die Wände hallten und unter ihren Füßen vibrierten. Hinter den zerbeulten Stahldoppeltüren fand eine Party statt. Vor dieser Tür ließ sich ein Rogue, der Wache hielt, schwer auf ein Knie nieder, sobald seine geschlitzten Pupillen erkannt hatten, wen er vor sich hatte.
„Sire.“ In seiner rauen Stimme lag Ehrfurcht, und er erwies seinem Gegenüber Respekt, indem er nicht aufblickte, um den Blick aus den Augen zu suchen, die hinter einer dunklen Brille verborgen lagen. „Mylord, Ihr ehrt uns.“
Das tat er, in der Tat. Der Führer nickte zum Dank leicht mit dem Kopf, als der Wachtposten wieder auf die Füße kam. Mit einer schmutzigen Hand drückte der Wächter die Türen auf, um seinem Vorgesetzten Zutritt zu der lärmenden Gesellschaft in dem Raum zu verschaffen. Der Führer schickte seinen Stellvertreter mit einem kurzen Befehl weg, um sich in Ruhe umschauen zu können.
Es war eine Orgie von Blut, Sex und Musik. Wohin er auch blickte, befummelten und besprangen Rogues-Männer eine reiche Auswahl an Menschen und stillten ihren Hunger an ihnen, an Männern wie auch an Frauen. Diese verspürten kaum Schmerzen, ob sie an diesem Ereignis nun freiwillig teilnahmen oder nicht. Die meisten waren mindestens einmal gebissen worden und hatten so viel Blut gelassen, dass sie auf einer Welle benommener, sinnlicher Wonne schwammen. Einige waren dem Tode schon sehr nahe, zusammengesackt wie hübsche Stoffpuppen auf dem Schoß von Raubtieren mit wildem Blick, die nicht aufhören würden, sich von ihnen zu nähren, bis es nichts mehr gab, was zu verschlingen war.
Aber andererseits war das zu erwarten, wenn jemand einer Grube voller räuberischer Bestien zartes Lamm vorwarf.
Als sich der Führer mitten ins Getümmel begab, begannen seine Handflächen zu schwitzen. Sein Schwanz wurde steif hinter den sorgfältig gebügelten Falten seiner maßgeschneiderten Hose. Sein Zahnfleisch begann zu pochen und zu schmerzen, aber er biss sich auf die Zunge, versuchte seine Fangzähne davon abzuhalten, vor Hunger auszufahren, so wie sein Geschlecht gierig auf die erotische Flut sinnlicher Reize reagierte, die von allen Seiten auf ihn einströmten.
Die miteinander vermischten Gerüche von Sex und vergossenem Blut riefen ihn wie ein Sirenengesang, den er gut kannte, auch wenn das schon lange zurücklag. Oh, er genoss noch immer einen guten Fick und eine saftige geöffnete Ader, aber diese Begierden hatten nicht länger die Oberhand über ihn. Es war ein harter Weg von dort, wo er sich einst befunden hatte, gewesen, aber am Ende hatte er gewonnen.
Er war nun der Meister – über sich selbst, und bald auch über viel, viel mehr.
Ein neuer Krieg begann, und er stand kurz davor, die entscheidende Schlacht zu schlagen. Er bildete seine Armee aus, perfektionierte seine Methoden, schloss sich mit Verbündeten zusammen, die später ohne Zögern auf dem Altar seiner persönlichen Lust und Laune geopfert werden würden. Er würde eine blutige Rache an dem Vampirvolk und der Welt der Menschen nehmen, die nur existierte, um seiner Art zu dienen. Wenn die große Schlacht vorbei sein würde, Staub und Asche weggeräumt wären, dann würde es niemanden mehr geben, der ihm im Weg stand.
Er würde ein gottverdammter König sein. Wie es sein angestammtes Recht war.
„Hmm … he, Süßer … komm her und spiel mit mir.“
Die heisere Einladung erreichte seine Ohren durch den Lärm hindurch. Aus dem sich windenden Gewühl aus glitschigen, nackten Körpern hatte sich die Hand einer Frau erhoben, um nach seinem Schenkel zu greifen, als er vorbeiging. Er hielt an und warf einen Blick zu ihr hinunter, seine Ungeduld war ihm deutlich anzumerken. Unter ihrem verschmierten dunklen Make-up war eine verblasste Schönheit zu erahnen, aber ihr Verstand war völlig an die Raserei der Orgie verloren. Zwei Rinnsale aus Blut strömten an ihrem hübschen Hals herunter und über die Spitzen ihrer perfekten Brüste. Auch an anderen Körperstellen trug sie offene Bisswunden: an der Schulter, auf ihrem Bauch und auf der Innenseite ihres Schenkels, direkt unterhalb des schmalen Haarstreifens, der ihr Geschlecht verhüllte.