„Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?“, fragte Danika, als Gabrielles besorgtes Schweigen sich zwischen ihnen ausdehnte.
„Ja, das tue ich.“ Sie begegnete dem Blick der anderen Frau und sah keinen Grund, die Wahrheit zu verbergen, zumal sie ihr wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben stand. „Kann ich Ihnen etwas sagen, Danika? Ich habe so ein schreckliches Gefühl wegen dieses Vorhabens heute Nacht. Um es noch schlimmer zu machen, sagte Tegan zu mir, er glaubt nicht, dass Lucan noch lange leben wird. Je länger ich hier unwissend herumsitze, desto mehr Angst habe ich, dass er recht haben könnte.“
Danika runzelte die Stirn. „Sie haben mit Tegan gesprochen?“
„Ich bin ihm – buchstäblich – vorhin in die Arme gelaufen. Er hat mir gesagt, ich soll mich nicht zu sehr an Lucan hängen.“
„Weil er denkt, Lucan wird sterben?“ Danika atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Dieser Kerl scheint es zu genießen, andere Leute nervös zu machen. Wahrscheinlich hat er das nur gesagt, weil er wusste, dass es Sie aufregen würde.“
„Lucan hat erwähnt, dass es zwischen ihnen böses Blut gibt. Denken Sie, Tegan ist vertrauenswürdig?“
Die blonde Stammesgefährtin schien einen Moment darüber nachzudenken. „Ich kann Ihnen sagen, dass Loyalität einen Großteil des Kodex der Krieger ausmacht. Er bedeutet diesen Männern alles, jedem von ihnen. Nichts auf der Welt könnte sie dazu bringen, gegen diese heilige Pflicht zu verstoßen.“ Danika erhob sich und nahm Gabrielles Hand in ihre. „Kommen Sie. Lassen Sie uns Eva und Savannah finden. Das Warten geht für uns alle schneller vorbei, wenn wir die Zeit nicht alleine verbringen.“
26
Von ihrem Beobachtungspunkt auf dem Dach eines der Hafengebäude sahen Lucan und die anderen Krieger zu, wie ein Kleintransporter donnernd vor ihrem Zielort hielt, wobei er Kies unter seinen glänzenden Chromfelgen aufspritzen ließ. Der Fahrer war ein Mensch. Wenn sein Geruch nach Schweiß und leichter Angst ihn nicht angekündigt hätte, dann hätte es ganz sicher die Countrymusik getan, die aus seinem geöffneten Fenster dröhnte. Er stieg aus dem Fahrzeug und lud sich eine gefüllte braune Papiertüte auf die Arme, aus der es nach dampfendem gebratenem Reis und Schweinefleisch Lo Mein stank.
„Sieht so aus, als wollten die Jungs heute zu Hause essen“, meinte Dante gedehnt, während der ahnungslose Ausfahrer den flatternden weißen Zettel überprüfte, der an die Bestellung geheftet war, und sich zunehmend argwöhnisch auf dem verlassenen Kai umsah.
Der Fahrer näherte sich der Eingangstür des Lagerhauses und warf wieder einen nervösen Blick um sich, dann stieß er im Dunkel einen Fluch aus und drückte den Summer. Im Gebäude brannte kein Licht; es gab nur den gelben Schein von der nackten Glühbirne über der Tür. Die zerbeulte Stahltür dahinter öffnete sich. Lucan konnte die wilden Augen eines Rogue erkennen. In einem hektischen Stakkato sprudelte der Ausfahrer den Umfang und die Gesamtsumme der Bestellung hervor und hielt die Tüte in den Ausschnitt aus Dunkelheit, der sich vor ihm befand.
„Was denn für’n Handel?“, fragte der Stadtcowboy laut. „Was zum Teufel –“
Eine große Hand packte ihn vorne am Hemd und zerrte ihn hoch. Er schrie und schaffte es durch sein panisches Herumfuchteln irgendwie, sich aus dem Griff des Rogue zu befreien.
„Hoppla“, zischte Niko von seiner Position in der Nähe des Simses, „ich nehme an, er hat gerade gemerkt, dass es nicht chinesisches Essen ist, was hier auf der Speisekarte steht.“
Der Rogue, durch die Schatten nur undeutlich zu erkennen, ging auf den Menschen los, riss ihn von hinten zu Boden und schlitzte ihm mit wilder Effizienz die Kehle auf. Der Tod des Mannes war blutig und trat augenblicklich ein. Als der Rogue aufsprang und die Beute auf die Schulter nahm, um sie ins Innere des Gebäudes zu bringen, sprang Lucan auf.
„Bewegt euch. Los.“
Gemeinsam setzten sich die Krieger in Bewegung, kamen synchron auf dem Boden auf und eilten auf das Rogues-Versteck in dem Lagerhaus zu. Lucan, der sie anführte, war der Erste, der den Vampir und seine leblose menschliche Last erreichte. Er ließ seine Hand schwer auf die Schulter des Rogue fallen und wirbelte sie herum, während er gleichzeitig eine seiner tödlichen Klingen aus einer Scheide an seiner Hüfte zog. Er zog sie dem Kerl hart über den Hals und trennte mit unfehlbarer Zielsicherheit in einem sauberen Schlag den Kopf der Bestie ab.
Die Zellen des Rogue begannen sofort zu schmelzen, als der Kuss von Lucans titanverstärkter Klinge wie Säure durch das zerstörte Nervensystem drang. Seine blutüberströmte Beute stürzte auf den Kies. Ein paar Sekunden später war von dem Rogue nichts mehr übrig bis auf eine Pfütze aus schwarzer Fäulnis, die in den Boden sickerte.
An der Tür warteten Dante, Tegan und die drei anderen Krieger, gestiefelt und gespornt und darauf vorbereitet, mit dem richtigen Kampf der Nacht zu beginnen. Auf Lucans Befehl stürmten die sechs mit gezückten Waffen in das Lagerhaus.
Die Rogues im Inneren hatten keine Ahnung, was sie da angriff, bis Tegan einen Dolch fliegen ließ und einen von ihnen durch die Gurgel traf. Als er schrie, sich wand und schwelend zu zersetzen begann, suchten seine vier wütenden Kameraden Deckung. Während sie Waffen ergriffen, rempelten sie sich gegenseitig um, um dem Sperrfeuer aus Kugeln und rasiermesserscharfem Stahl auszuweichen, das Lucan und seine Brüder auf sie einhageln ließen.
Zwei weitere Rogues starben in den ersten Sekunden des Gefechts, aber die verbliebenen beiden flohen tief in die düsteren Ecken des Lagerhauses. Schüsse prasselten auf Lucan und Dante ein, abgefeuert von der Stellung der Feinde, die sich hinter einem Stapel aus alten Kisten verschanzt hatten. Die Krieger wichen dem Angriff aus und schickten einen kleinen Liebesgruß zurück. Sie trieben einen der Rogues ins Freie, wo Lucan ihn erledigte.
Aus den Augenwinkeln sah Lucan den letzten Scheißkerl, wie er durch ein Labyrinth aus umgestürzten Speichertanks und verstreuten Metallrohren hinten im Gebäude zu fliehen versuchte.
Tegan hatte das ebenfalls bemerkt. Unaufhaltsam wie ein rollender Güterzug marschierte der Vampir hinter dem flüchtenden Rogue her und verschwand auf seiner tödlichen Verfolgungsjagd in den Tiefen des Lagerhauses.
„Die Luft ist rein“, brüllte Gideon irgendwo in der von Rauch und Staub erfüllten Dunkelheit.
Er hatte es kaum ausgesprochen, da spürte Lucan, wie eine neue Bedrohung näher kam. Seine Ohren erhaschten eine leise Bewegung über ihnen. Die Dachfenster über den unverdeckten Belüftungsschächten und Gerüsten des Lagerhauses waren durch ihre Schmutzschicht fast lichtundurchlässig, aber Lucan war sicher, dass sich von draußen etwas näherte.
„Achtung!“, rief er den anderen zu.
Im gleichen Moment zerbarst die Decke, und sieben weitere Rogues sprangen mit gezückten Waffen herab.
Woher waren sie gekommen? Die Informationen über das Versteck waren zuverlässig: sechs Individuen, die wahrscheinlich erst kürzlich zu Rogues geworden waren und unabhängig, ohne Gruppenzugehörigkeit, operierten. Also wer hatte die Kavallerie gerufen, die sie unterstützte? Woher wussten die von dem Angriff?
„Verdammter Hinterhalt“, knurrte Dante und sprach so Lucans Gedanken laut aus.
Es war absolut unmöglich, dass diese neue Kampfeinheit ganz zufällig eingetroffen war, und als Lucans Blick sich auf den größten der Rogues heftete, die nun auf sie losgingen, spürte er, wie finstere Wut sich in seinem Bauch zusammenzubrauen begann.
Es war der Vampir, der ihm in der Nacht des Mordes beim Nachtclub entkommen war. Der Scheißkerl von der Westküste. Der Rogue, der Gabrielle hätte töten können und es immer noch eines Tages tun konnte, wenn Lucan ihn jetzt nicht aus dem Verkehr zog.
Während Dante und die anderen das Feuer auf die von oben kommende Gruppe von Rogues erwiderten, hatte Lucan es nur auf dieses einzige Ziel abgesehen.
Heute Nacht würde er ihn erledigen.
Der Scheißkerl fauchte, als er sich näherte, das Scheußliche Gesicht zu einem Grinsen verzogen. „So treffen wir uns wieder, Lucan Thorne.“