Als sie sie wegblinzelte, bemerkte sie, dass Lucans Blick aus blassgrauen Augen auf sie gerichtet war. „Hab den … Scheißkerl … gekriegt.“
„Pst.“ Sie strich ihm schweißdurchtränkte Strähnen aus der geschundenen Stirn. „Lucan, bleib einfach still liegen. Versuch nicht zu reden.“
Aber er ignorierte sie, schluckte mit trockener Kehle und stieß die Worte mühsam hervor. „Vom Nachtclub … Der Scheißer war heute da.“
„Der dir entkommen war?“
„Diesmal nicht.“ Er blinzelte langsam. Sein Blick war so wild wie starr. „Kann dich jetzt … nie mehr verletzen …“
„Ja“, bemerkte Gideon launig hinter ihnen. „Und du hast verdammtes Glück gehabt, dass du noch am Leben bist, du Held.“
Gabrielle schnürte sich die Kehle noch mehr zu, als sie auf ihn hinunterblickte. Trotz all seiner Beteuerungen, dass die Pflicht zuerst kam und dass es für sie nie einen Platz in seinem Leben geben konnte, hatte Lucan heute Nacht an sie gedacht? Er blutete und war verletzt – wegen etwas, was er für sie getan hatte?
Sie nahm seine Hand und drückte sie an sich, um wenigstens einen Teil von ihm in den Armen halten zu können. Sie presste seine gebogenen Finger an ihr Herz. „O Lucan …“
Savannah kam herbeigelaufen, den Arm voll Decken und Verbänden. Niko folgte dicht hinter ihr und schob die rollende Krankenliege vor sich her.
„Erst Lucan“, sagte Gideon zu ihnen. „Legt ihn in ein Bett und kommt dann zurück, um Rio zu holen.“
„Nein.“ Lucan stöhnte, aber es klang mehr nach Entschlossenheit als nach Schmerz. „Helft mir auf.“
„Ich glaube nicht, dass du –“, sagte Gabrielle, aber er versuchte bereits allein vom Boden aufzustehen.
„Ganz ruhig, mein Großer.“ Dante schritt ein und schob eine starke Hand unter Lucans Arm. „Du hast da draußen ganz schön was abbekommen. Warum machst du nicht eine kleine Verschnaufpause und lässt dich zur Krankenstation schieben?“
„Ich habe gesagt, mir geht es gut.“ Als Gabrielle und Dante jeweils einen seiner Arme stützten, hievte Lucan sich in eine sitzende Position. Er keuchte ein wenig, blieb aber aufrecht. „Hab ein bisschen was abbekommen, aber scheißegal … geh in mein eigenes Bett. Ich lasse mich … nicht dahin bringen.“
Dante warf Gabrielle einen Blick zu und rollte mit den Augen. „Er ist so dickköpfig, dass er meint, was er sagt.“
„Ja. Ich weiß.“
Sie lächelte, dankbar für die Sturheit, die ihn seine Stärke nicht verlieren ließ. Vorsichtig schoben sie und Dante ihre Schultern unter Lucans Arme und stützten ihn mit ihren Körpern, während er langsam auf die Beine kam.
„Hierher“, sagte Gideon zu Niko, der die Krankentrage in die richtige Position für Rio brachte, während Savannah und Danika taten, was sie konnten, um seine Wunden abzubinden und seine schmutzige, zerfetzte Kleidung sowie die jetzt nutzlosen Waffen zu entfernen.
„Rio?“ Evas Stimme war hoch, als sie in das Durcheinander hineinlief, den Rosenkranz noch immer umklammert. Sie trat an die geöffnete Aufzugkabine heran und wich augenblicklich zurück, wobei sie ein ersticktes Geräusch von sich gab. „Rio! Wo ist er?“
„Er wird sich nicht unterkriegen lassen, Eva“, sagte Niko und trat einen Schritt von der beladenen Trage weg, um Eva den Weg abzuschneiden. Er führte sie mit fester Hand weg, bevor sie dem Verletzten zu nahe kommen konnte. „Heute Nacht hat es eine Explosion gegeben. Er hat das Schlimmste abbekommen.“
„Nein!“ Sie schlug voller Entsetzen die Hände vor das Gesicht. „Nein, du irrst dich. Das ist nicht mein Rio! Das kann nicht sein!“
„Er lebt, Eva. Aber du musst stark für ihn sein.“
„Nein!“ Sie begann in wilder Hysterie zu schreien und versuchte sich gewaltsam zum Aufzug durchzukämpfen, um in der Nähe ihres Gefährten zu sein. „Nicht mein Rio! Gott, nein!“
Savannah trat zu ihr und fasste Eva unter dem Arm. „Komm hier weg“, sagte sie sanft, aber fest. „Sie wissen, wie sie ihm helfen müssen.“
Evas verzweifelte Schluchzer erfüllten den Korridor. Gabrielle empfand eine ganz persönliche Mischung aus Erleichterung und eiskalter Angst. Sie fürchtete um Rio, und es brach ihr das Herz, sich vorzustellen, was Eva fühlen musste. Sie verstand diesen Schmerz nur zu gut. Es hätte auch Lucan sein können, der an Rios Stelle blutend und reglos auf der Trage lag. Ein paar Millimeter – Bruchteile einer Sekunde – waren vielleicht alles, was darüber entschieden hatte, wer von den beiden Kriegern in einer immer größer werdenden Blutlache um sein Leben kämpfte.
„Wo ist Tegan?“, fragte Gideon, der konzentriert auf seine eigenen, sich schnell bewegenden Finger starrte, während er den verletzten Krieger geschickt versorgte, untersuchte und behandelte. „Ist er noch nicht zurück?“
Danika schüttelte den Kopf. Sie warf Gabrielle einen besorgten Blick zu. „Warum sollte er hier sein? War er denn nicht mit euch zusammen?“
„Wir haben ihn aus den Augen verloren, als wir in dem Rogues-Versteck waren“, erklärte Dante. „Nachdem die Bombe explodiert war, mussten wir alles daransetzen, Lucan und Rio so schnell wie möglich zum Quartier zurückzubringen.“
„Los jetzt“, sagte Gideon und packte das Kopfende von Rios Trage. „Niko, hilf mir, das Ding zu fahren.“
Die Frage nach Tegan wurde in den Hintergrund gedrängt, als alle sich beeilten, für Rio zu tun, was sie konnten. Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zur Krankenstation. Gabrielle, Dante und Lucan kamen am langsamsten voran, da Lucan schwankte, sich an beiden festhielt und darum kämpfte, auf den Beinen zu bleiben.
Gabrielle warf ihm einen Blick zu. Sie wünschte sich so sehr, sein zerschlagenes und geschundenes Gesicht zu liebkosen. Als sie ihn mit blutendem Herzen ansah, schnellten seine dunklen Wimpern nach oben, und er begegnete ihrem Blick. Sie wusste nicht, was in diesem lang anhaltenden Augenblick der Ruhe inmitten des Chaos zwischen ihnen vorging, aber es fühlte sich warm und richtig an, trotz allem, was an den Ereignissen dieser Nacht schrecklich war.
Als sie den Raum erreichten, in dem Rio schon versorgt wurde, stand Eva neben der Krankentrage, über seinen schwer mitgenommenen Körper gebeugt. Tränen strömten ihr über die Wangen.
„Das hätte nicht passieren sollen“, stöhnte sie. „Es hätte nicht mein Rio sein sollen. Nicht so.“
„Wir werden für ihn tun, was wir können“, versprach Lucan. Sein Atem ging durch seine eigenen Verletzungen mühsam, und er krächzte. „Ich verspreche es dir, Eva. Wir werden ihn nicht sterben lassen.“
Sie schüttelte den Kopf und starrte auf ihren Gefährten hinab. Als sie ihm über das Haar strich, murmelte Rio unzusammenhängende Worte. Er war halb bei Bewusstsein und litt sichtlich unter starken Schmerzen. „Ich will, dass er sofort hier rausgebracht wird. Er soll in die Dunklen Häfen gebracht werden. Er braucht ärztliche Hilfe –“
„Er ist nicht stabil genug, um aus dem Quartier weggebracht zu werden“, sagte Gideon beruhigend. „Ich habe die Kenntnisse und die Ausrüstung, die ich brauche, um ihn vorerst hier zu behandeln.“
„Ich will, dass er hier rauskommt!“ Evas Kopf schoss nach oben, und ihr vor Zorn sprühender Blick glitt von einem Krieger zum anderen. „Er nützt keinem von euch jetzt etwas, also überlasst ihn mir. Ihr habt kein Recht mehr auf ihn – niemand von euch. Er gehört jetzt ganz mir! Ich will nur, was für ihn am besten ist!“
Gabrielle spürte, wie Lucans Arm sich bei dem hysterischen Ausbruch anspannte. „Dann darfst du Gideon nicht in die Quere kommen. Du musst ihn arbeiten lassen“, sagte er streng, schon wieder in der Rolle des Anführers, trotz seines eigenen üblen Zustandes. „Im Augenblick ist das Einzige, was zählt, Rio am Leben zu erhalten.“
„Du“, sagte Eva. Ihre Stimme klang kalt, als sie ihren tränennassen, wütenden Blick auf Lucan richtete. Ihre Augen nahmen einen noch wilderen Schimmer an, und ihr Gesicht verwandelte sich in eine Maske aus purem Hass. „Du hättest es sein müssen, der hier stirbt, nicht er! Du, Lucan – das war der Handel, den ich gemacht habe! Du hättest es sein sollen!“