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Gabrielle stieg aus der Dusche in Lucans Privatquartier, trocknete sich die nassen Haare ab und schlüpfte in einen weißen Frotteebademantel. Sie war hungrig und erschöpft. Den größten Teil des Tages hatten sie, Savannah und Danika damit verbracht, Gideon beim Behandeln von Rio und Lucan zu helfen. Alle im Quartier waren fassungslos über Evas Verrat und die tragischen Folgen – ihren Selbstmord und den bedenklichen Zustand von Rio, der um sein Leben kämpfte. In einem Zustand benommenen Unglaubens taten sie, was nötig war, und sprachen wenig.
Lucan war ebenfalls in einem schlechten Zustand, aber gemäß seinem Wort und seinem starrköpfigen Willen verließ er die Krankenstation aus eigener Kraft, um sich in seinem Privatquartier zu erholen. Gabrielle war fast erstaunt, dass er überhaupt Hilfe annahm, aber unter dem gemeinsamen Druck der Frauen hatte er keine Möglichkeit, sie abzulehnen.
Gabrielle spürte, wie ihr Gefühl der Erleichterung stärker wurde, als sie die Badezimmertür öffnete und ihn auf dem riesigen Bett sitzen sah, gestützt durch mehrere Kissen, den Rücken gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt. Seine Wange und seine Stirn hatten genäht werden müssen, und Verbände bedeckten einen Großteil seiner breiten Brust sowie seiner Arme und Beine, aber er erholte sich. Er war noch in einem Stück, und im Laufe der Zeit würde er genesen.
Alles, was er anhatte, war genauso ein weißer Frotteebademantel, wie sie ihn jetzt trug. Das war alles, was die Frauen ihm anzulegen erlaubten, nachdem sie Stunden damit zugebracht hatten, seine Quetschungen und blutigen Granatsplitterwunden zu säubern und notdürftig zu verarzten, die fast seinen gesamten Körper übersäten.
Am Nachmittag hatte er sich von seinem Bett aus vertraulich mit den restlichen Kriegern beraten. Auch mit Tegan, der kurz vor Sonnenaufgang mit neuen Informationen zurückgekehrt war, die er den anderen unbedingt mitteilen wollte. Er war von so gut wie allen mit offenem Misstrauen empfangen worden. Doch angesichts der Tatsache, dass der Mann nach der Aussprache mit Lucan und seinen Brüdern noch am Leben war, ging Gabrielle davon aus, dass Tegan eine gute Erklärung für sein Verschwinden während des Angriffs auf das Lagerhaus hatte. Offenbar war er von jedem Verdacht befreit.
„Fühlst du dich besser?“, fragte Lucan und sah zu, wie sie mit den Fingern durch ihr feuchtes Haar fuhr, um die Strähnen aus ihrem Gesicht zu streichen. „Ich dachte, du bist vielleicht hungrig, wenn du da rauskommst.“
„Ich bin am Verhungern!“
Er zeigte auf einen niedrigen Cocktailtisch im Sitzbereich seines Schlafzimmers, aber Gabrielles Nase hatte sie bereits auf das beeindruckende Büfett aufmerksam gemacht. Der Duft von Baguette, Knoblauch und Kräutern, Tomatensoße und Käse zog durch den Baum.
Sie erspähte einen Teller Salat und eine Schale mit frischen Früchten; und zwischen all den anderen Versuchungen stand sogar etwas, das dunkel und schokoladig aussah. Sie wanderte hinüber, um einen genaueren Blick darauf zu werfen, während ihr Magen vor Vorfreude knurrte.
„Manicotti“, sagte sie und atmete die aromatischen Dämpfe der Pasta ein. Eine Flasche Rotwein stand entkorkt neben einem Kristallglas. „Und Chianti?“
„Savannah wollte wissen, ob du irgendwelche Lieblingsspeisen hast. Das war alles, was mir einfiel.“
Es war das Essen, das sie sich selbst an dem Abend zubereitet hatte, als er erneut in ihre Wohnung kam, um ihr das Handy zurückzubringen. Das Essen, das kalt und vergessen auf ihrer Küchentheke gestanden hatte, während Lucan und sie übereinander herfielen wie die Karnickel. „Du hast dich erinnert, was ich an dem Abend gekocht hatte?“
Er zuckte leicht mit den Achseln. „Setz dich. Iss.“
„Da ist bloß ein Gedeck.“
„Hast du noch Besuch erwartet?“
Sie sah ihn an. „Du kannst wirklich nichts davon essen? Nicht mal einen Bissen?“
„Selbst wenn ich es täte, könnte ich bloß einen Bruchteil verdauen.“ Er machte eine Geste, die anzeigte, dass sie sich setzen sollte. „Menschliche Nahrung dient uns nur dazu, den Schein zu wahren.“
„Okay.“ Gabrielle setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Sie zog die cremefarbene Leinenserviette unter dem Silberbesteck heraus und legte sie sich auf den Schoß. „Es kommt mir so gemein vor, mich vor deiner Nase vollzustopfen.“
„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich hatte für einen Tag genug Bemutterung und weiblichen Wirbel um mich herum.“
„Ganz wie du willst.“
Sie war zu hungrig, um noch eine einzige Sekunde zu warten, und das Essen sah viel zu köstlich aus, als dass sie ihm hätte widerstehen können. Mit dem Rand ihrer Gabel trennte Gabrielle ein Stück Manicotti ab und kaute mit absoluter Glückseligkeit. Sie aß die Hälfte der Portion in Rekordzeit und legte nur eine Pause ein, um sich ein Glas Wein einzugießen, das sie ebenfalls so gierig wie genießerisch zu sich nahm.
Die ganze Zeit beobachtete Lucan sie vom Bett aus.
„Gut?“, fragte er, als sie ihm über den Rand ihres Weinglases hinweg einen verlegenen Blick zuwarf.
„Fantastisch“, murmelte sie, während sie sich einen Bissen Salat mit Vinaigrette in den Mund schob. Ihrem Magen ging es schon viel besser. Sie schluckte den letzten Bissen Salat herunter, dann goss sie sich ein weiteres halbes Glas Chianti ein und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. „Ich danke dir dafür. Ich muss auch Savannah danken. Sie hätte sich nicht all diese Mühe machen sollen.“
„Sie mag dich“, sagte Lucan, wobei seine ernsthafte Miene undurchschaubar war. „Du warst vergangene Nacht eine große Hilfe. Vielen Dank, dass du dich um Rio und die anderen gekümmert hast. Und auch um mich.“
„Du musst mir nicht danken.“
„Doch, das muss ich.“ Der kleine, genähte Schnitt auf seiner Stirn wölbte sich bei seinem finsteren Blick. „Du warst die ganze Zeit immer nur freundlich und großzügig, und ich –“ Er brach ab und murmelte leise etwas vor sich hin. „Ich weiß es zu schätzen, was du getan hast, das ist alles.“
Oh, dachte sie, das ist alles. Selbst seine Dankbarkeit zeigte er nur durch die volle Rüstung seiner emotionalen Barrieren.
Gabrielle fühlte sich plötzlich zu sehr wie eine Außenseiterin und verspürte den dringenden Wunsch, das Thema zu wechseln. „Ich habe gehört, Tegan hat es heil zurück geschafft.“
„Ja. Aber Dante und Niko hätten ihn fast in der Luft zerrissen, nachdem er während des Angriffs so plötzlich verschwunden war.“
„Was hat er denn erlebt?“
„Einer von den Rogues im Lagerhaus versuchte zur Hintertür hinauszuschlüpfen, als die Situation sich zuspitzte. Tegan folgte ihm auf die Straße. Eigentlich wollte er den Scheißkerl töten, aber dann entschied er sich, ihn erst zu verfolgen, um zu sehen, wo er hin wollte. Er folgte ihm bis zu der alten Nervenheilanstalt vor der Stadt. Der Ort wimmelte nur so von Rogues. Wenn es je einen Zweifel daran gab, so sind wir jetzt sicher, dass es sich dabei um eine große Kolonie handelt. Wahrscheinlich eins der Hauptquartiere an der Ostküste.“
Ein kalter Schauder lief Gabrielle über den Rücken, als sie daran dachte, dass sie ganz allein dort gewesen war – sogar im Inneren der Nervenheilanstalt gewesen war, ohne zu ahnen, dass es sich um eine Hochburg der Rogues handelte.
„Ich habe ein paar Bilder vom Innenbereich gemacht. Sie sind noch in meiner Kamera. Ich hatte noch gar keine Chance, sie herunterzuladen.“
Lucan war ganz starr geworden und sah sie an, als hätte sie ihm soeben mitgeteilt, sie habe mit scharfen Granaten Jonglieren gespielt. Sein Gesicht schien unter der erschöpften Blässe noch ein bisschen fahler zu werden. „Du bist nicht nur hingegangen, du hast auch noch da eingebrochen?“
Sie zuckte schuldbewusst mit den Achseln.
„Mein Gott, Gabrielle.“ Lucan hievte seine Beine über den Bettrand und blieb so sitzen. Stumm starrte er sie eine ganze Weile an, ehe er Worte fand. „Du hättest leicht getötet werden können. Ist dir das klar?“