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Der eine aus jener Sphäre letzter Spiritualität, wo die Kulturen dreier Jahrtausende und zweier Erdteile ihr Symposion halten – der andere aus einem Dschungel weit unterhalb der Lotung letzter Schundliteratur, aus einer Unterwelt, wo dem zusammengebrauten Muff von

Kleinbürgerhinterzimmern, Obdachlosenasylen, Kasernenaborten und Hinrichtungshöfen Dämonen entsteigen. Beide besaßen, aus ihrem »Jenseits« heraus, echte Zauberkraft; gleichgültig, was ihre Politik war.

Es ist schwer zu sagen, wohin Rathenaus Politik Deutschland und Europa geführt hätte, hätte er Zeit gehabt, sie durchzuführen. Bekanntlich hatte er diese Zeit nicht, da er nach einem halben Jahr Amtsführung ermordet wurde.

Ich erzählte schon, daß Rathenau massenhaft echte Liebe und echten Haß erregte. Dieser Haß war ein wilder, irrationaler, zu keiner Diskussion bereiter Urhaß, wie ihn wiederum seither nur ein deutscher Politiker geerntet hat: Hitler. Es versteht sich, daß die Hasser Rathenaus und die Hasser Hitlers sich irgendwie entsprechend von einander unterschieden wie diese beiden Persönlichkeiten selbst. »Das Schwein muß gekillt werden« – das war die Sprache der Gegner Rathenaus. Dennoch war es überraschend, daß eines Tages die Mittagszeitungen ganz schlicht und ohne weiteres die Überschrift hatten: Außenminister Rathenau ermordet. Man hatte ein Gefühl, als wiche einem der Boden unter den Füssen, und dies Gefühl verstärkte sich, wenn man las, wie überaus leicht, mühelos und geradezu selbstverständlich die Tat vonstattengegangen war:

Rathenau fuhr allmorgendlich um eine bestimmte Zeit von seinem Haus im Grunewald im offenen Auto zur Wilhelmstraße. Eines Morgens nun wartete in der stillen Villenstraße ein anderes Auto, fuhr hinter dem Wagen des Ministers her, überholte es – und im Moment des Überholens schossen seine Insassen, drei junge Leute, alle zugleich, aus nächster Nähe, ihre Revolver auf Kopf und Brust des Opfers ab. Dann mit Vollgas davon. (Heut steht ein Gedenkstein für sie an der Stelle.) So einfach war das also. Ein Columbus–Ei, in gewissem Sinne. Hier war es passiert, bei uns in Berlin–Grunewald, nicht etwa in Caracas oder Montevideo. Man konnte sich die Stelle ansehen: Eine Vorortstraße wie alle andern. Die Täter, wie man bald erfuhr, waren Jungens wie wir, der eine ein Obersekundaner. Hätte es nicht ebensogut dieser oder jener Mitschüler sein können, der neulich noch erklärt hatte: »... muß gekillt werden.«? Neben aller Empörung, allem Zorn und allem Schmerz, war etwas von der fast Lachreiz erregenden Wirkung der erfolgreichen Frechheit zu spüren: Natürlich, furchtbar einfach, man wäre gar nicht darauf gekommen vor Einfachheit. Auf diese Art wurde es wirklich unheimlich, ja unheimlich leicht, Geschichte zu machen. Offenbar gehörte die Zukunft nicht den Rathenaus, die sich die Mühe machten, ungewöhnliche Persönlichkeiten zu werden, sondern den Techows und Fischers, die einfach Autofahren und Schießen lernten.

Diese Empfindung wurde freilich im Augenblick übertönt von einer überwältigenden Mischung aus Trauer und Wut. Nicht die Erschießung der tausend Arbeiter in Lichtenberg 1919 hatte die Massen so aufgebracht wie jetzt die Ermordung dieses einen Mannes, der eigentlich sogar ein Kapitalist gewesen war. Ein paar Tage über den Tod hinaus hielt der Persönlichkeitszauber noch an; es herrschte, einige Tage, etwas, was ich später nie mehr erlebt habe: echte Revolutionsstimmung. Zur Bestattung fanden sich, ohne Zwang und ohne Drohung, ein paar hunderttausend Menschen ein.

Und nachher gingen sie nicht auseinander, sondern zogen stundenlang durch die Straßen, in nicht endenden Zügen, schweigend, grimmig, fordernd. Man spürte: Hätte man diese Massen an diesem Tage aufgefordert, Schluß zu machen mit denen, die damals noch »Reaktionäre« hießen und in Wahrheit bereits die Nazis waren, sie hätten es ohne weiteres getan, rasch, durchgreifend und gründlich.

Niemand forderte sie dazu auf. Man forderte sie vielmehr auf, Disziplin und Ordnung zu bewahren.

Die Regierung beriet viele Wochen lang über ein »Gesetz zum Schutze der Republik«, das leichte Gefängnisstrafen für Ministerbeleidigung einführte und rascher Lächerlichkeit verfiel. Ein paar Monate später stürzte sie trübe und lautlos in sich zusammen und machte einer Rechts–Regierung Platz.

Das letzte, was die kurze Rathenau–Epoche als Nachgefühl zurückließ, war die Bestätigung dessen, was schon 1918/19 gelehrt hatten: daß nichts, was die Linke tut, klappt.

10

Es kam das Jahr 1923. Dieses phantastische Jahr ist es wahrscheinlich, was in den heutigen Deutschen jene Züge hinterlassen hat, die der gesamten übrigen Menschheit unverständlich und unheimlich und die auch dem normalen »deutschen Volkscharakter« fremd sind: jene hemmungslos zynische Phantastik, jene nihilistische Freude am »Unmöglichen« um seiner selbst willen, jene zum Selbstzweck gewordene »Dynamik«. Einer ganzen deutschen Generation ist damals ein seelisches Organ entfernt worden: ein Organ, das dem Menschen Standfestigkeit, Gleichgewicht, freilich auch Schwere gibt, und das sich je nachdem als Gewissen, Vernunft, Erfahrungsweisheit, Grundsatztreue, Moral oder Gottesfurcht äußert. Eine ganze Generation hat damals gelernt – oder zu lernen geglaubt

– daß es ohne Ballast geht. Die Jahre vorher waren eine gute Vorschule des Nihilismus. Im Jahre 1923 aber wurden seine höheren Weihen ausgeteilt.

Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen »1923«–Erlebnis entspricht. Den Weltkrieg haben alle erlebt, die meisten auch Revolutionen, soziale Krisen, Streiks,

Vermögensumschichtungen, Geldentwertungen. Aber keins die phantastische, groteske

Übersteigerung von alledem auf einmal, die 1923 in Deutschland stattfand. Keins diesen gigantischen karnevalistischen Totentanz, dieses nicht endende blutig–groteske Saturnalienfest, in dem nicht nur das Geld, in dem alle Werte entwertet wurden. Das Jahr 1923 machte Deutschland fertig – nicht speziell zum Nazismus, aber zu jedem phantastischen Abenteuer. Die psychologischen und machtpolitischen Wurzeln des Nazismus liegen tiefer zurück, wie wir sahen. Aber damals entstand das, was ihm heute seinen Wahnsinnszug gibt: die kalte Tollheit, die hochfahrend hemmungslose, blinde Entschlossenheit zum Unmöglichen; das »Recht ist, was uns nutzt« und »das Wort unmöglich gibt es nicht«. Offenbar liegen Erlebnisse dieser Art jenseits der Grenze dessen, was Völker ohne seelischen Schaden durchmachen können. Ich schaudere bei dem Gedanken, daß wahrscheinlich ganz Europa nach dem Kriege ein vergrößertes 1923 erleben wird – wenn nicht sehr weise Männer den Frieden machen.

Das Jahr 1923 begann mit einer patriotischen Hochstimmung, fast war es eine Wiedergeburt von 1914. Poincaré besetzte das Ruhrgebiet, die Regierung rief zum passiven Widerstand auf, und bei der deutschen Bevölkerung überwand das Gefühl nationaler Erniedrigung und Gefahr –

wahrscheinlich echter und ernster als 1914 – die angehäuften Bürden der Müdigkeit und Enttäuschung. Das Volk »erhob sich«, es machte eine leidenschaftliche Seelenanstrengung und zeigte seine Bereitschaft – ja wozu? zum Opfer? zum Streit? Es war nicht ganz klar. Nichts wurde von ihm erwartet. Der »Ruhrkrieg« war kein Krieg. Niemand wurde eingezogen. Es gab keine Kriegsberichte. Ohne ein Ziel ließ die kriegerische Stimmung nach. Überall intonierten tagelang Menschenmengen den Rütli–Schwur aus Wilhelm Tell.

Allmählich bekam die Geste etwas Lächerliches, Schamhaftes, weil sie in einer solchen Leere zur Schau gestellt wurde. Außerhalb des Ruhrgebietes geschah überhaupt nichts. An der Ruhr selbst gab es eine Art bezahlten Streik. Nicht nur wurden die Arbeiter bezahlt, sondern auch die Arbeitgeber

– nur zu gut bezahlt, wie bald bekannt wurde. Vaterlandsliebe – oder Ersatz für entfallenen Gewinn?

Einige Monate später bekam der Ruhrkrieg, der so vielversprechend mit dem Rütli Schwur begonnen hatte, den unverkennbaren Geruch der Korruption. Bald regte er niemanden mehr auf. Keiner kümmerte sich um das Ruhrgebiet, weil viel verrücktere Sachen zu Hause sich ereigneten.