Der Zeitungsleser konnte in jenem Jahr wieder eine Variante des aufregenden Zahlenspiels spielen, wie während des Krieges, als die Gefangenenzahlen und die Höhe der Beute die Schlagzeilen beherrscht hatten. Diesmal bezogen sich die Ziffern nicht auf kriegerische Ereignisse, obwohl das Jahr so kriegerisch begonnen hatte, sondern auf eine sonst ganz uninteressante alltägliche Börsenangelegenheit, nämlich die Notierung des Dollarkurses. Die Schwankungen des Dollarwertes waren das Barometer, an dem man mit einer Mischung aus Angst und Erregung den Sturz der Mark ablas. Man konnte mehr beobachten. Je höher der Dollar stieg, desto wilder wurden unsere Flüge ins Reich der Phantasie.
Es war eigentlich nichts Neues an der Abwertung der Mark. Schon 1920 hatte die erste Zigarette, die ich heimlich geraucht habe, fünfzig Pfennig gekostet. Bis Ende 1922 hatten sich die Preise allmählich auf das Zehn– bis Hundertfache des Vorkriegsniveaus erhöht, und der Dollar stand bei etwa 500 Mark. Dies hat sich jedoch allmählich ereignet; Löhne, Gehälter und Preise hatten sich im großen und ganzen gleichmäßig erhöht. Es war etwas unbequem mit den großen Zahlen zu rechnen, aber sonst nicht außergewöhnlich. Viele Leute redeten noch von »Preisanstieg«. Es gab Aufregenderes als das.
Aber nun wurde die Mark verrückt. Schon bald nach dem Ruhrkrieg schoß der Dollar auf 20 000 , hielt eine Weile an, kletterte auf 40 000, zögerte kurze Zeit, und fing dann an, mit kleinen periodischen Schwankungen stoßweise die Zehntausende und Hunderttausende abzuleiern. Keiner wußte genau, wie es geschah. Wir folgten augenreibend dem Vorgang, als ob es sich um ein bemerkenswertes Naturphänomen handelte. Der Dollar wurde Tagesthema, und dann plötzlich sahen wir uns um und erkannten, daß das Ereignis unser Alltagsleben zerstört hatte.
Wer ein Sparkonto, eine Hypothek oder sonst eine Geldanlage besaß, sah es über Nacht verschwinden. Bald machte es nichts aus, ob es sich um einen Spargroschen oder ein
Großvermögen handelte. Alles wurde ausgelöscht. Viele Leute wechselten schnell ihre Anlagen, nur um zu sehen, daß es überhaupt nichts ausmachte. Bald wurde es klar, daß etwas geschehen war, das alle ihr Vermögen verlorengehen ließ und ihre Gedanken auf etwas viel dringlicheres richten ließ.
Die Lebensunterhaltskosten hatten angefangen davon zu jagen, denn die Händler folgten dem Dollar dicht auf den Fersen. Ein Pfund Kartoffeln, das noch am Vortage fünfzigtausend Mark gekostet hatte, kostete heute schon hunderttausend; ein Gehalt von fünfundsechzigtausend Mark, das man am vorigen Freitag nach Hause gebracht hatte, reichte am Dienstag nicht aus, um ein Paket Zigaretten zu kaufen.
Was sollte geschehen? Plötzlich entdeckten Leute eine Insel der Sicherheit: Aktien. Das war die einzige Form der Geldanlage, die irgendwie der Geschwindigkeit standhielt. Nicht regelmäßig und nicht alle im gleichen Maße, aber sie schafften es ungefähr schrittzuhalten. Also ging man und kaufte Aktien. Jeder kleine Beamte, jeder Angestellte, jeder Schichtarbeiter wurde Aktionär. Man bezahlte seine täglichen Einkäufe, indem man Aktien verkaufte. An Zahltagen gab es einen allgemeinen Ansturm auf die Banken, und die Aktienkurse schossen himmelwärts wie Raketen. Die Banken waren von Reichtum aufgeschwemmt. Unbekannte neue Banken schossen wie Pilze aus dem Boden und machten ein reißendes Geschäft. Täglich verschlang die ganze Bevölkerung den Börsenbericht. Manchmal stürzten einige der Aktien, und mit ihnen stürzten Tausende schreiend dem Abgrund entgegen. In jedem Laden, jeder Fabrik, jeder Schule wurden einem Aktientips zugeflüstert.
Den Alten und Weltfremden ging es am schlechtesten. Viele wurden zum Betteln getrieben, viele zum Selbstmord. Den Jungen, Flinken ging es gut. Über Nacht wurden sie frei, reich, unabhängig. Es war eine Lage, in der Geistesträgheit und Verlaß auf frühere Erfahrung mit Hunger und Tod bestraft, aber Impulshandeln und schnelles Erfassen einer neuen Lage mit plötzlichem ungeheurem Reichtum belohnt wurde. Der einundzwanzigjährige Bankdirektor trat auf, wie auch der Primaner, der sich an die Börsenratschläge seiner etwas älteren Freunde hielt. Er trug Oscar–Wilde–Schlipse, organisierte Champagnerfeste, und unterhielt seinen verlegenen Vater.
Unter soviel Leid, Verzweiflung und Bettelarmut, gedieh eine fieberhafte, heißblütige Jugendhaftigkeit, Lüsternheit und ein allgemeiner Karnevalsgeist. Jetzt hatten auf einmal die Jungen und nicht die Alten das Geld; und überdies noch hatte seine Natur sich so geändert, daß es seinen Wert nur wenige Stunden hielt, und es wurde ausgegeben wie nie vorher oder seither; und für andere Sachen als solche, für die alte Leute ihr Geld ausgeben.
Zahllose Bars und Nachtklubs sprangen plötzlich auf. Junge Paare wirbelten durch die Straßen der Vergnügungsviertel, wie in einem Film über die oberen Zehntausend. Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust. Ja die Liebe selbst hatte einen inflationären Charakter angenommen.
Die Gelegenheit mußte ergriffen werden; die Masse mußte sie bieten.
Der »neue Realismus« der Liebe wurde entdeckt. Es gab einen Ausbruch, sorgloser, hektischer, fröhlicher Leichtlebigkeit. Typisch folgten Liebesaffären einem extrem schnellen Lauf ohne Umwege.
Die Jungen, die in jenen Tagen lieben lernten, übersprangen die Romantik und umarmten den Zynismus. Ich selber und meine Zeitgenossen gehörten nicht dazu. Wir waren mit fünfzehn, sechzehn gerade zwei, drei Jahre zu jung. In den folgenden Jahren, als wir die Rolle des Liebhabers mit rund zwanzig Mark Taschengeld spielen mußten, haben wir oft insgeheim die älteren Jungen beneidet, die damals ihre Chance gehabt hatten. Wir hatten gerade einen flüchtigen Blick durchs Schlüsselloch getan; gerade genug um den Duft der Zeit für immer in der Nase zu behalten. Zu einem Fest mitgenommen zu werden, wo Verrücktes sich ereignen mußte; ein frühreifes, ermüdendes Sichgehenlassen, und ein kleiner Kater von zu vielen Cocktails; all die Geschichten der älteren Jungen, deren Gesichter seltsam ihre ausschweifenden Nächte verrieten; der plötzliche, entzückende Kuß eines gewagt geschminkten Mädchens.
Es gab eine andere Seite des Bildes. Die Bettler häuften sich mit einem Mal; auch die Berichte über Selbstmorde in den Zeitungen, und die »Gesucht wegen Einbruch«–Anzeigen der Polizei auf den Litfaßsäulen, denn Raub und Diebstahl fanden überall in großem Maße statt. Einmal sah ich eine alte Frau – vielleicht sollte ich eine alte Dame sagen – seltsam steif auf einer Parkbank sitzen. Eine kleine Menge hatte sich angesammelt. »Tot«, sagte einer; »Verhungert«, sagte ein anderer. Es hat mich nicht besonders gewundert. Zu Hause hungerten wir auch manchmal.
Ja, mein Vater war einer von denen, die die Zeit nicht verstanden, oder nicht verstehen wollten, wie er sich schon geweigert hatte, den Krieg zu verstehen. Er begrub sich hinter dem Leitspruch »Ein preußischer Beamter spekuliert nicht« und kaufte keine Aktien. Damals hielt ich das für ein außerordentliches Beispiel von Engstirnigkeit, das schlecht zu seinem Charakter paßte, denn er war einer der klügsten Männer, die ich gekannt habe. Heute verstehe ich ihn besser. Rückblickend kann ich ein bißchen den Ekel nachempfinden, mit dem er »diese Ungeheuerlichkeit« ablehnte, und die ungeduldige Abscheu, die sich hinter der Platitüde, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, verbarg.
Leider artete das praktische Ergebnis solcher hohen Prinzipien manchmal in Posse aus. Und die Posse hätte zur Tragödie werden können, wenn sich meine Mutter nicht auf ihre Art der Lage angepaßt hätte.
So gestaltete sich äußerlich das Leben in der Familie eines hohen preußischen Beamten. Am 31.
oder ersten des Monats bekam mein Vater sein Monatsgehalt, das unseren Lebensunterhalt darstellte – Bankguthaben und Sparbriefe waren längst wertlos geworden. Wieviel das Gehalt wert war, war schwer abzuschätzen; sein Wert schwankte von Monat zu Monat; einmal konnten hundert Millionen eine beachtliche Summe darstellen, wenig später waren eine halbe Milliarde ein Taschengeld. Auf jeden Fall versuchte mein Vater, eine Monatskarte für die U–Bahn so schnell wie möglich zu kaufen, so daß er wenigstens im nächsten Monat zur Arbeit und nach Hause fahren konnte, obwohl dieses Transportmittel einen beträchtlichen Umweg und Zeitverlust mit sich brachte.